Menschen
in Baden-Baden, heute:
Vedat
Esen
Im
Märchen wird einer, der sieben Fliegen auf einen Streich erschlägt,
als Kriegsheld gefeiert und darf irgendwann die Tochter des Königs
heiraten. Etwas bescheidener sind da schon die Träume von Vedat
Esen, auch wenn er sich zumindest dem Namen nach wacker schlägt.
„Das
tapfere Schneiderlein“ hat der 35jährige Kurde seine
Änderungsschneiderei genannt, die er letzte Woche – tapfer wie es
sich für jemanden mit diesem Label gehört – versteckt hinter
einem Baugerüst in der Lichtentaler Straße 32 eröffnet hat. Im
Augenblick ist der Laden also schwer zu finden, aber wer eintritt,
ist angenehm überrascht, wie hell, penibel ordentlich, frisch und
modern alles aussieht. Inklusive Chef: Wie im Bilderbuch hat er
natürlich ganz akkurat ein Maßband um den Hals drapiert.
Drei
Arbeitsplätze mit Nähmaschinen stehen hintereinander, an der Wand
hängen in Reih und Glied Nähspulen mit farbigen Fäden. Es gibt eine Umkleidekabine, eine kleine Sitzecke mit Knabbereien.
Alles
sieht so einladend aus, dass man sich am liebsten gleich dazusetzen
und mit dem Nähen anfangen möchte. Aber das ist natürlich nicht im
Sinne des Erfinders. Erst einmal ist dies hier ein Ein-Mann-Betrieb,
obwohl es – vermutlich dank der ansprechenden Optik – schon
zugeht wie im Taubenschlag. Viele kommen herein, weil sie selber
Arbeit suchen und sehnsüchtig die einladenden leeren Einsatzplätze
mustern. Aber noch ist es nicht soweit, noch kann Vedat Esen die
Arbeit allein bewältigen. Noch! „Fragen Sie in ein paar Wochen
nach“, rät er den Interessenten freundlich zu.
Schon
kommt die nächste Kundin, will eine Jacke aus dem Second-hand-Shop
nebenan umgeändert haben.
Allen
bietet der freundliche Chef Tee oder Kaffee, daran müssen sich die
deutschen Kunden aber wohl noch gewöhnen. Viele lehnen höflich ab,
das nimmt der Mann gelassen hin, wenngleich seine
Geschäftsphilosophie eine andere ist: weg vom reinen Geschäft hin
zu einem freundlichem Kontakt miteinander. Meine Kunden sollen mir
nicht nur Arbeit bringen und wieder gehen. Ich freue mich, wenn ich
ihnen etwas anbieten kann. Auch wenn sie keinen Auftrag für mich
haben. So ist er es ja aus seiner gastfreundlichen Heimat gewohnt.
Wo
kommt er denn her? „Aus Nordrhein-Westfalen“, sagt er allen
Ernstes, und wir müssen erst mal lachen.
Es
stimmt ja auch. Dort hat er lange gelebt, in Bochum hat er auch
gearbeitet, in einer viel größeren Schneiderei, wie er erzählt.
Aber nun zog es ihn in die Nähe seiner Schwiegereltern.
Denn
er weiß, was Familienbande bedeuten, lange genug hat er selber sie
entbehren müssen. 1997 kam er nach Deutschland, als 17jähriger,
weil er Angst hatte, in der Türkei zum Militärdienst eingezogen zu
werden und dann gegen sein eigens Volk vorgehen zu müssen. Sein Dorf
war 1992 zerstört worden, Teile der Familie hatte es daraufhin bis
nach Deutschland verstreut, andere begehrten auf und wurden unter
Druck gesetzt. Für Vedat Esen stand fest: Er musste fort. Aber
wohin?
Die
Wahl fiel auf Deutschland, weil dort ein Onkel Zuflucht gefunden
hatte. Er hat Bedenken, die Geschichte weiter zu erzählen.
„Vielleicht mögen die Leute in der heutigen Situation keine
Flüchtlinge“, sorgt er sich. Werden sie fernbleiben, wenn sie
hören, dass er vor 18 Jahren in Deutschland Asyl beantragte?
Es
dauerte lange, bis dem Antrag stattgegeben wurde. Eine
Arbeitserlaubnis habe er schnell erhalten – immerhin hat er den
Umgang mit der Nähmaschine seit seinem 14. Lebensjahr gelernt –
aber vierzehn Jahre habe es gedauert, bis das Verfahren endgültig
abgeschlossen war; vierzehn Jahre, in denen er von seiner Familie
getrennt war. Eltern und Geschwister bekamen kein Visum, er selbst
durfte Deutschland während des Verfahrens ohne Pass nicht verlassen.
„Als ich mich von meiner Schwester verabschiedete, war sie sieben,
und als ich sie wiedersah, war sie 21.“ Er schüttelt den Kopf, als
könne er es immer noch nicht glauben. Inzwischen hat er selbst
geheiratet und hat zwei Kindern – und besitzt seit 2010 die
deutsche Staatsangehörigkeit.
Mit
seinem neuen Geschäft in Baden-Baden ist er nun rundum glücklich.
Warum Baden-Baden? „Das fragen mich so viele Leute“, wundert er
sich. Für ihn war die Wahl des neuen Wohnortes eine
Selbstverständlichkeit. Die Schwiegereltern in Nähe, und dann das
Baden-Badener Pflaster... „Wer Kleider beim KiK für 10 Euro kauft,
der gibt keine 20 Euro für eine Änderung aus“, sagt er mit einem
Augenzwinkern.
Aber
nicht nur das: „Es lief vom ersten Tag gut, und die Leute sind so
freundlich.“ Die Baustelle stört ihn nicht besonders. Er gibt,
weil man ihn so schwer finden kann, bis Ende Dezember Rabatt auf
seine Leistungen. „Es reicht mir ja, wenn ich keine Schulden
machen. Wenn ich genug für die Miete und zum Essen verdiene. Mehr
braucht man doch nicht.“
Seine
Hoffnung liegt nun auf der guten badischen Küche. „Ich freue mich,
wenn jemand sagt, dass seine Frau gut kocht,“ verrät er
verschmitzt. „Wenn ihm dann ein Bäuchlein wächst, darf er gern zu
mir kommen, ich mache ihm die Kleider weiter.“ Und umgekehrt geht
das natürlich auch...
P.S. Wir schreiben das Jahr 2023. Immer noch suchen und finden Menschen diesen beliebten Blogeintrag. Deshalb hier die Telefonnummer des fleißigen Schneiderleins:
07221 - 3733113 oder 0172 2577774.
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