Sonntag, 15. November 2015

Vedat Esen


Menschen in Baden-Baden, heute:

Vedat Esen


Im Märchen wird einer, der sieben Fliegen auf einen Streich erschlägt, als Kriegsheld gefeiert und darf irgendwann die Tochter des Königs heiraten. Etwas bescheidener sind da schon die Träume von Vedat Esen, auch wenn er sich zumindest dem Namen nach wacker schlägt.



Das tapfere Schneiderlein“ hat der 35jährige Kurde seine Änderungsschneiderei genannt, die er letzte Woche – tapfer wie es sich für jemanden mit diesem Label gehört – versteckt hinter einem Baugerüst in der Lichtentaler Straße 32 eröffnet hat. Im Augenblick ist der Laden also schwer zu finden, aber wer eintritt, ist angenehm überrascht, wie hell, penibel ordentlich, frisch und modern alles aussieht. Inklusive Chef: Wie im Bilderbuch hat er natürlich ganz akkurat ein Maßband um den Hals drapiert.





Drei Arbeitsplätze mit Nähmaschinen stehen hintereinander, an der Wand hängen in Reih und Glied Nähspulen mit farbigen Fäden. Es gibt eine Umkleidekabine, eine kleine Sitzecke mit Knabbereien.

Alles sieht so einladend aus, dass man sich am liebsten gleich dazusetzen und mit dem Nähen anfangen möchte. Aber das ist natürlich nicht im Sinne des Erfinders. Erst einmal ist dies hier ein Ein-Mann-Betrieb, obwohl es – vermutlich dank der ansprechenden Optik – schon zugeht wie im Taubenschlag. Viele kommen herein, weil sie selber Arbeit suchen und sehnsüchtig die einladenden leeren Einsatzplätze mustern. Aber noch ist es nicht soweit, noch kann Vedat Esen die Arbeit allein bewältigen. Noch! „Fragen Sie in ein paar Wochen nach“, rät er den Interessenten freundlich zu.




Schon kommt die nächste Kundin, will eine Jacke aus dem Second-hand-Shop nebenan umgeändert haben.

Allen bietet der freundliche Chef Tee oder Kaffee, daran müssen sich die deutschen Kunden aber wohl noch gewöhnen. Viele lehnen höflich ab, das nimmt der Mann gelassen hin, wenngleich seine Geschäftsphilosophie eine andere ist: weg vom reinen Geschäft hin zu einem freundlichem Kontakt miteinander. Meine Kunden sollen mir nicht nur Arbeit bringen und wieder gehen. Ich freue mich, wenn ich ihnen etwas anbieten kann. Auch wenn sie keinen Auftrag für mich haben. So ist er es ja aus seiner gastfreundlichen Heimat gewohnt.

Wo kommt er denn her? „Aus Nordrhein-Westfalen“, sagt er allen Ernstes, und wir müssen erst mal lachen.

Es stimmt ja auch. Dort hat er lange gelebt, in Bochum hat er auch gearbeitet, in einer viel größeren Schneiderei, wie er erzählt. Aber nun zog es ihn in die Nähe seiner Schwiegereltern.




Denn er weiß, was Familienbande bedeuten, lange genug hat er selber sie entbehren müssen. 1997 kam er nach Deutschland, als 17jähriger, weil er Angst hatte, in der Türkei zum Militärdienst eingezogen zu werden und dann gegen sein eigens Volk vorgehen zu müssen. Sein Dorf war 1992 zerstört worden, Teile der Familie hatte es daraufhin bis nach Deutschland verstreut, andere begehrten auf und wurden unter Druck gesetzt. Für Vedat Esen stand fest: Er musste fort. Aber wohin?

Die Wahl fiel auf Deutschland, weil dort ein Onkel Zuflucht gefunden hatte. Er hat Bedenken, die Geschichte weiter zu erzählen. „Vielleicht mögen die Leute in der heutigen Situation keine Flüchtlinge“, sorgt er sich. Werden sie fernbleiben, wenn sie hören, dass er vor 18 Jahren in Deutschland Asyl beantragte?




Es dauerte lange, bis dem Antrag stattgegeben wurde. Eine Arbeitserlaubnis habe er schnell erhalten – immerhin hat er den Umgang mit der Nähmaschine seit seinem 14. Lebensjahr gelernt – aber vierzehn Jahre habe es gedauert, bis das Verfahren endgültig abgeschlossen war; vierzehn Jahre, in denen er von seiner Familie getrennt war. Eltern und Geschwister bekamen kein Visum, er selbst durfte Deutschland während des Verfahrens ohne Pass nicht verlassen. „Als ich mich von meiner Schwester verabschiedete, war sie sieben, und als ich sie wiedersah, war sie 21.“ Er schüttelt den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. Inzwischen hat er selbst geheiratet und hat zwei Kindern – und besitzt seit 2010 die deutsche Staatsangehörigkeit. 


 

Mit seinem neuen Geschäft in Baden-Baden ist er nun rundum glücklich. Warum Baden-Baden? „Das fragen mich so viele Leute“, wundert er sich. Für ihn war die Wahl des neuen Wohnortes eine Selbstverständlichkeit. Die Schwiegereltern in Nähe, und dann das Baden-Badener Pflaster... „Wer Kleider beim KiK für 10 Euro kauft, der gibt keine 20 Euro für eine Änderung aus“, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Aber nicht nur das: „Es lief vom ersten Tag gut, und die Leute sind so freundlich.“ Die Baustelle stört ihn nicht besonders. Er gibt, weil man ihn so schwer finden kann, bis Ende Dezember Rabatt auf seine Leistungen. „Es reicht mir ja, wenn ich keine Schulden machen. Wenn ich genug für die Miete und zum Essen verdiene. Mehr braucht man doch nicht.“

Seine Hoffnung liegt nun auf der guten badischen Küche. „Ich freue mich, wenn jemand sagt, dass seine Frau gut kocht,“ verrät er verschmitzt. „Wenn ihm dann ein Bäuchlein wächst, darf er gern zu mir kommen, ich mache ihm die Kleider weiter.“ Und umgekehrt geht das natürlich auch...
 
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