Menschen in Baden-Baden, heute:
Christof Teelen
Es
ist still in der Wohnung, obwohl im Hintergrund leise Musik läuft.
Die zwei Katzen, vorgestern aus dem Tierheim geholt, haben sich
irgendwo verkrochen; sie wissen noch nicht, wie gut es ihnen gehen
könnte, wenn sie zu ihrem neuen Besitzer nur mehr Zutrauen fassen
würden. Christof Teelen lässt sie in Ruhe. Stellt ihnen hin, was
sie brauchen, beobachtet sie aus dem Augenwinkel, wartet ab. „Nachts
trauen sie sich mehr“, hat er bemerkt. Aus dem Regal gefallene CDs
und Fußtapsen auf der Herdplatte zeugen davon, dass sie die Wohnung
erkunden, wenn sie sich sicherer fühlen. Zehn Jahre sind die beiden
schon. „Katzen gewöhnen sich nur schlecht an eine neue Umgebung.
Das wird schon noch“, erklärt er freundlich und guckt noch einmal
in die Ecke. Was ist es, das sich in seinen Blick schleicht?
Sehnsucht? Trauer, dass er erst kürzlich die Vorgängerkatze
verloren hat, die abends so gemütlich bei ihm auf dem Lesesofa lag
und schnurrte? Hoffnung, dass die beiden sich schon bald richtig
verwöhnen lassen werden?
Wahrscheinlich
eine Mischung aus allem. Besonders aber Mitgefühl. Denn er ist ein
Mensch, der anderen gerne hilft – egal ob Mensch oder Tier – ,
und zwar auf eine ihm eigene unaufdringliche, stille, freundliche
Art. Ob Hausaufgabenhilfe, Patenaktion oder Videoprojekt für
Jugendliche – zweimal die Woche mindestens schenkt er anderen
Menschen Zeit und Rat. Obwohl er doch selbst tief in seiner Seele
zerrissen ist.
Er
ist keiner, der sich nach vorne drängt, dennoch kennen ihn
aufmerksame Zeitungsleser: Denn er war es, der bei der
Friedenskundgebung am 8. Mai auf der Fieserbrücke stand, und den
letzten Brief des Vaters von der Front vorlas. Der soeben für zehn
Jahre aktive Mitarbeit bei der Caritas im Projekt Bücke 99 geehrt
wurde. Der sich seit Frühjahr im Patenprojekt der Caritas engagiert
und sich intensiv um Samson, einen Flüchtling aus Nigeria, kümmert.
Dieser
Fall liegt ihm besonders am Herzen, und über diesen Fall haben wir
uns kennengelernt, denn zufällig bemühten wir uns eine Zeitlang,
ohne voneinander zu wissen, um den gleichen Mann, was es bei derzeit über
600 Asylbewerbern in der Stadt eigentlich nicht geben sollte.
Hier
ein Foto der beiden (Fotos: Zeindler-Efler) während der
Ausbildungsmesse im Kongresshaus.
Wenig
später fand Samson seinen Arbeitsplatz „jwd“, hoch droben an der
Schwarzwaldhochstraße: => KLICK
Christof
Teelen ist kein Mensch, für den der Fall damit abgeschlossen wäre,
im Gegenteil, seine Betreuung geht weit darüber hinaus: Er bahnt
seinem Schützling nun den Weg durch den Behördendschungel und
bringt ihn mit Musikgruppen zusammen, in denen der junge Mann in
seiner mageren Freizeit nach Herzenslust Saxophon spielen kann.
Dabei
kommen Teelen seine Kontakte aus der Berufszeit zugute. Die
Künstlerwelt wurde ihm nämlich schon in die Wiege gelegt. Sein
leiblicher Vater, den er nie kennenlernen konnte, weil er 1942, fünf
Monate vor seiner Geburt, im Krieg fiel, war Schauspieler gewesen.
Fotos und viele verblichene Schriftstücke blieben als Erinnerung an
den Unbekannten. Unvergessen das offizielle Schreiben der Wehrmacht,
in dem der jungen Ehefrau und werdenden Mutter mitgeteilt wurde, wie
ihr Mann gefallen war: „Ein Herzschuss setzte seinem Leben ein
Ziel“, hieß es. Teelen fehlen die Worte angesichts so viel
Zynismus.
Die
Mutter heiratete ein zweites Mal, und sein Stiefvater war ebenfalls
Schauspieler, ein berühmter noch dazu: Friedrich Schoenfelder, ein
Kavalier der alten Schule, dessen Markenzeichen eine sonore Stimme
und eine überaus elegante Erscheinung waren =>
KLICK
Wie
war das Leben an der Seite des großen Gentleman-Schauspielers? Ein
großes Glück sei dieser (Stief-)Vater gewesen („Er hat mich voll
als Sohn angenommen, ich war sein 'Junge'“), auch wenn es
angesichts der vielen Engagements Schoenfelders kein „richtiges“
Familienleben gab. Die gemeinsame Liebe zum Jazz verband die beiden,
außerdem gingen sie oft zusammen ins Kino und redeten viel über die
Welt des Films. Kein Wunder also, dass Christof Teelen schon bald,
noch vor dem Abitur, die Schule hinschmiss und in eben diese Welt
eintauchte: Kameramann wollte er eigentlich werden, aber es war „nur“
ein Platz für die Ausbildung zum Aufnahmeleiter frei.
Es
folgten sechs Jahre in einer Synchronfirma, dann war es genug, und er
wechselte als Aufnahmeleiter zum Fernsehen. Fast 20 Jahre lang sorgte
Christof Teelen nun freiberuflich dafür, dass am „Set“ alles wie
am Schnürchen klappte: Er erstellte den Drehplan, war für die
tägliche Disposition verantwortlich, passte auf, wann wer wo war.
Fernsehspiele, Opernaufführungen, Traumschiff, Unterhaltungsshows...
Er kam mit allen Berühmtheiten seiner Zeit in Berührung, kannte
auch die kleinen Geheimnisse eines großen Placido Domingo oder eines
– übrigens tadellos disziplinierten - Harald Juhnke. Tausend
Geschichten aus jener Zeit hat er auf Lager, aber auch eine
Niederlage: So ein hektischer Beruf nämlich frisst einen auf, eine
Ehe kann schnell in die Brüche gehen, wenn man sich nur noch
zwischen Tür und Angel sieht und den gemeinsamen Gesprächsfaden
verliert...
Doch
dann traf ihn das Glück. Während der Produktion einer
Peter-Alexander-Show. Mitten ins Herz. Da war sie plötzlich, die
Richtige, der Anker- und Wendepunkt in seinem Leben.
Christof
Teelen stockt, mag nicht gleich weiterreden. Unangenehm wird ihm das
Gespräch jetzt, vor allem, weil viele in seiner Umgebung von dem,
was nun folgt, nicht viel wissen. Aber – es gehört doch zu seinem
Leben dazu... Soll er es für immer verschweigen? So war es damals
eben: Stress, viel Stress. Und es gab ein Mittel, diesen Stress
besser zu ertragen: Alkohol. Nein, gar nicht soo viel Alkohol. Als
Spiegeltrinker braucht man nicht viel, solange der Pegel
stimmt...
Seine
Liebe aber, die bemerkte das Problem schon. Und sie tat das einzig
Richtige. Sie drohte mit Konsequenzen: Der Alkohol oder ich! Und
Teelen? Nahm den nur für einen Alkoholkranken folgerichtigen Weg:
Er ignorierte die Warnung, nahm die Drohung erst für bare Münze,
als es zu spät war und die Frau seines Lebens tatsächlich ging. Nur
ein paar Tage hielt er das aus, dann beschloss er zu kämpfen: Für
sein Leben, für seine Liebe, für sich. Ein harter Kampf. Klinik,
Therapie, ein halbes Jahr lang. Er biss sich durch, hatte ein klares
Ziel vor Augen: Er wollte, nein, er musste diese Frau zurückgewinnen.
Und
er schaffte es.
Und
wenig später meldete sich seine Tochter an...
Das
Glück war vollkommen.
1990
wurde auch sein Berufsleben ruhiger, denn durch Zufall war er zum
richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und sprach mit dem richtigen
Mann: Wochen später, nur wenige Stunden, bevor es von Barbados aus
per Traumschiff für längere Zeit auf Drehtermin hinaus auf die
offene See ging, erreichte ihn das Angebot des heutigen SWR in
Baden-Baden: Eine sichere Festanstellung! Für den treusorgenden
Familienvater war das DIE Gelegenheit. Der Vertrag wurde sofort
geschlossen, noch am Telefon.
Seitdem
lebt Christof Teelen in Baden-Baden, und zwar gern. Obwohl er hier in
Baden-Baden nur sieben Jahr später das Schlimmste erlebte, was ein
liebender Mensch durchmachen kann: Aus heiterem Himmel erlitt seine
über alles geliebte Frau eines Abends einen Herzanfall und starb von
einem Augenblick zum anderen.
Wenn
er über jenen Abend redet, merkt man Christof Teelen die Qualen an,
die er damals durchlebte. 1997 war das gewesen, aber für ihn ist es
immer noch, als sei es gestern geschehen. Mit den Händen greifbar
wird die Verzweiflung, wenn er darüber spricht, was er damals
durchmachte: Hier die tote Frau. Im Zimmer nebenan schlafend die
ahnungslose elfjährige Tochter. Die Brille, die er vor Aufregung
nicht fand. Der Krankenwagen, der so lange brauchte. Die Nachbarn und
Freunde, sie sofort kamen und bei ihm blieben. Die aufgewühlte
Stimmung, die nicht nachließ, als die letzten nach Hause gegangen
waren. Und dann... Die Flaschen auf der Anrichte, die er plötzlich
wahrnahm – und die er trotz der jähen Versuchung nicht anrührte.
Bis heute winkt er - „aus gesundheitlichen Gründen“ - ab, wenn
ihm jemand ein Glas anbietet. Und jedes Mal ist dann der Gedanke an
„sie“ ganz nah bei ihm.
Ach,
sie ist sowieso immer da, auf den Fotos in der Wohnung, vor allem
aber im Herzen. Die Trauer, die wird er nie mehr los. Sie klebt an
ihm, auch wenn er sie tapfer wegzulächeln versucht.
Der
Weg in den Alltag ohne die Ehefrau war schwer: Beruf, Haushalt,
Erziehungsfragen, und niemand, mit dem man sich aussprechen kann...
2002, als ein vorzeitiger Ruhestand zur Option wurde, überlegte er
daher nicht lange. Nie wird er vergessen, wie die Tochter strahlte,
als sie hörte, dass ab sofort das Essen auf dem Tisch stehen würde,
wenn sie mittags aus der Schule käme.
Ruhestand?
Geht das denn so einfach? Kann man wirklich ohne weiteres von heute
auf morgen aus einem so interessanten, aufregenden Beruf aussteigen?
Man
kann! Christof Teelen schmunzelt. „Ich habe in den fünf Wochen vor
dem Tag X meinen Resturlaub genommen, und der hörte dann einfach
nicht mehr auf. Das war toll.“ Denn: „Ich merkte, ich hatte etwas
Wertvolles geschenkt bekommen: Zeit.“
Die
verbrachte er erst einmal mit Lesen und einer ausgedehnten
Sommerfrische am Erländer See. Urlaub? Fernreisen? Er wiegt den
Kopf. „Wozu, wenn man seine Eindrücke mit niemandem teilen
kann...?“ Und schon kriecht sie wieder heran, die stille
Traurigkeit in seinen Augen. Aber er beeilt sich hinterherzuschieben,
wie schön doch Baden-Baden ist, und dass er ja auch oft seine
Tochter besucht, zumal jetzt, seit er Opa geworden ist...
Und
es ist ja auch nicht so, dass er sich einschließt. Natürlich gab es
einmal einen Versuch zu einer neuen Zweisamkeit. Aber dann merkte er
schnell, dass es nicht gehen würde. „Frühstück um 8 Uhr und zum
Rauchen auf den Balkon?“ Keine Option.
So
hielt er die Augen offen und stolperte 2005 über eine
Zeitungsanzeige, in der ehrenamtliche Unterstützer für die
Hausaufgabenhilfe in der Brücke 99 gesucht wurden, einem Projekt der
Caritas. Seitdem ist Christof Teelen dabei, zehn Jahre nun schon. An
zwei Tagen die Woche betreut er jeweils acht Kinder und Jugendliche
bei den Hausaufgaben, und mehr noch: Als die Caritas Paten für junge
Leute suchte, die Unterstützung bei Bewerbungsschreiben, beim Gang
zur Arbeitsagentur und zur Berufsberatung brauchten, war er dabei.
Sogar ein Video-Projekt entstand unter seiner Leitung daraus – mit
zweifachem Erfolg. Zum einen ist es eine toller Film über
Berufswünsche und was daraus werden kann geworden, zum anderen hat
das Projekt den Jugendlichen selbst etwas mitgegeben: „Ich habe
dadurch gelernt, auf Menschen zuzugehen. Das hätte ich mich vorher
nie getraut“, sagte einer von ihnen, und das macht Christof Teelen
glücklich: „Für diesen Satz hat sich das halbe Jahr Arbeit voll
gelohnt.“
Ähnlich
engagiert hat er nun sein neuestes Projekt, die Patenschaft für
Samson aus Nigeria, angepackt. Aus einer behutsamen Annäherung über
gemeinsame Fußballabende vor dem Fernseher wurde eine echte
Herausforderung, die nicht mit der Vermittlung zu Musikfreunden
endet. Inzwischen ist er auf der Suche nach einer kleinen,
preiswerten Wohnung oder einem Platz in einer WG für Samson, denn im
Augenblick muss der fleißige junge Mann von seinem geringen Lohn
fast 200 Euro Miete bezahlen – für einen Schlafplatz in einem 17
Quadratmeter kleinen Zimmer, in das sich neuerdings drei Personen
quetschen, mit allen Unannehmlichkeiten, die das mit sich bringt –
bis hin zu der Tatsache, dass plötzlich Dinge „verschwinden“...
Da wird „der Pate“ ungeduldig und sehr bestimmt. Wenn Samson sich
mit zwei weiteren berufstätigen Asylbewerbern zusammentäte, stünden
600 bis 750 Euro für die Warmmiete einer bescheidenen zwei oder
drei-Zimmer-Wohnung zur Verfügung. Das sollte doch zu schaffen sein!
Und
die scheuen Katzen? Wie geht es ihnen? Schon einen Tag nach meinem
Besuch trauten sie sich ein Stück aus der Deckung, die eine schaffte
es aufs Sofa, die andere – wenn auch sehr skeptisch – auf den
Stuhl. Manchmal sind es eben die kleinen Dinge im Leben …