Menschen
in Baden-Baden, heute:
Christian
Kühnel / Sibylle Loeben
Dienstag,
17.30 Uhr, Asylbewerberheim Westliche Industriestraße.
Die
Tür des Versammlungsraums im Erdgeschoss steht offen. Laptops und
Kopierer sind aufgestellt. Die fünf Mitstreiter vom Arbeitskreis
Asyl trudeln ein, begrüßen sich herzlich wie ein Familie, warten
auf den üblichen Ansturm, aber noch ist es ruhig.
Nur
zwei Asylbewerber fragen in der ersten knappen Stunde um Rat. „Das
kann sich noch ändern“, erklären die „alten Hasen“, es könnte
allerdings auch am Poststreik liegen: vielleicht gab es in der
zurückliegenden Woche nicht gar so viele der gefürchteten gelben
Briefumschläge. Die halten sonst alle hier auf Trab, weil sie
negative Bescheide enthalten, und auf die kann nur binnen einer Woche
Widerspruch eingelegt werden. Erst mal ist also Ruhe an dieser
Front, auch wenn es, wie ich höre, später noch heftig zur Sachen gehen wird, und man sich bis spätabends in drei Beratergruppen aufteilen muss, um dem Ansturm Herr zu werden.
Dennoch
gibt es immer, auch in dieser noch ruhigen Anfangsphase, zu tun.
Kopfzerbrechen
macht ein Asylbewerber, der beim Schwarzfahren erwischt wurde. „Ich
hatte aber ein Ticket“, beteuert er. Egal, die Einspruchsfristen
sind längst abgelaufen, inzwischen summieren sich noch Mahngebühren,
weil der arme Kerl kein Bankkonto hat und deshalb nicht weiß, wie er
das Geld überweisen soll. Bei der Bank habe man ihn weggeschickt,
weil Bareinzahlungen nicht möglich seien.
„Gib
mir das Geld, ich mach das für dich“, seufzt einer der Helfer,
doch der Gambier erschrickt. „Jetzt? Sofort?“ Er krempelt seine
Hosentasche um. 20 Euro hat er noch, und die müssen noch eine gute
Woche fürs Essen reichen.
Aber
nächste Woche wird er wiederkommen, versprochen. Und nicht mehr
schwarz fahren. Das sowieso nicht, er hat ja längst ein klappriges
Fahrrad, mit dem er in die Stadt kommt.
Dies
sind nur die kleinen Dinge des Lebens, die die Leute vom Arbeitskreis
Asyl und amnesty international allwöchentlich regeln. Meist geht es
allerdings um größere Probleme: Abschiebungsandrohungen, Angst ums
Leben, wenn es wieder zurück in die Heimat gehen soll, Panik vor
einem Leben auf der Straße, wenn die Abschiebung nach Italien droht,
wo man als erstes europäischen Boden betreten und seinen
Fingerabdruck hinterlassen hat.
Sibylle
Loeben und Cristian Kühnel können ein Lied davon singen. Seit drei
Jahrzehnten beschäftigen sie sich nun schon eingehend mit der
Flüchtlingsproblematik und gelten in ganz Baden-Baden einhellig und unangefochten als "die" Profis in Asylfragen. Letzten Monat haben sie den Vorsitz des
Arbeitskreises in unverbrauchtere Hände gelegt, Ludwig Herfs hat
sich angeboten, den verantwortungsvollen Posten mitsamt dem
dazugehörenden Papierkram zu übernehmen. Sie sind ihm dankbar
dafür, das spürt man, aber natürlich heißt das nun nicht, dass
die beiden sich aufs Sofa zurückziehen. Sie bleiben weiterhin in der
Beratung dabei, stehen dem eingetragenen gemeinnützigen Verein als
Beiräte zur Verfügung.
Aber
ein bisschen Durchschnaufen ist nun schon möglich.
Szenenwechsel.
Ein winziges Dorf irgendwo im Elsass nahe der Grenze. Hier scheint
die Welt zu Ende zu sein, zumindest aber noch heil. Unberührte
Natur, am Ortsschild steht, dass man hier auf Pestizide verzichtet.
Viele Straßen gibt es nicht. Das Anwesen, in dem die beiden wohnen,
liegt an der Hauptstraße, die den Namen kaum verdient. Hinter dem
Haupthaus, da, wo einst Ziegen und Schafe ihren Stall hatten, da
haben die beiden sich vor Jahrzehnten gemütlich eingenistet – und
teilen sich die angrenzenden 3600 Quadratmeter mit Schafen, Katzen,
Hühnern, Hähnen, Gänsen - und einer Ente, die ein echter
Überlebenskünstler in einer Naturidyll ist, in der eben auch der
Fuchs den Enten gerne gute Nacht sagt.
Sibylle
Loeben verdreht die Augen. Ihr ist das alles ein bisschen viel
Idylle, aber später, wenn sie mit Gummistiefeln über die Weide
stapft und Schafe und Gänse heranmarschieren, dann scheint ihre Welt
doch in Ordnung zu sein.
Und
irgendwie erscheint alles stimmig – ihr ehrenamtliches Engagement,
ihre Umgebung, und nicht zuletzt ihr Beruf im deutsch-französischen
Kindergarten der AWO in Baden-Baden. Ihr Traumberuf. Immer schon habe
sie Erzieherin werden wollen, erzählt die 56jährige. Folgerichtig
absolvierte sie nach dem Abitur ein soziales Jahr, das sie aus dem
gewohnten Mannheim in ein ehemaliges Mädchenheim eines Baden-Badener
Klosters verschlug. Hier in dieser Stadt blieb sie nach dem Studium
der Sozialpädagogik schließlich hängen und gründete zusammen mit
ihrer Freundin, die sie während des sozialen Jahres kennengelernt
hatte, das „Haus Löwenzahn“ in Steinbach. 15 Jahre baute sie es
zusammen mit der Freundin auf und steckte viel Zeit, Geld und Energie
in die sozialpädagogische Einrichtung. (Hier geht es zur WEbseite von haus Löwenzahn => KLICK)
Überhaupt zeichnet
ehrenamtliches Engagement Sibylle Loebens Leben aus, es reichte von
Aktivitäten als Studentin in der Friedensbewegung, über Blockaden
wie in Mutlangen bis hin zur Arbeit im Dritte-Welt-Laden.
„Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ gehören
für die streitbare Katholikin zusammen, aber nach knapp zwanzig
Jahren unermüdlichen Engagements erfasst sie neuerdings manchmal
eine gewisse Mutlosigkeit. „Ich habe das Gefühl, wir sind keinen
Schritt vorwärts gekommen, man unterhält sich immer noch über
dieselben Sachen, statt etwas zu tun, was man ja längst weiß.“
Ganz
besonders gilt das für die Flüchtlingsarbeit, für die sie sich
seit Anfang der 90er Jahre einsetzt. Seitdem ist sie im Vorstand des
Arbeitskreises Asyl in Baden-Baden und arbeitet bei Amnesty
international mit. Was treibt sie an?
„Meine
Mutter war Halbjüdin, so habe ich schon früh Einblicke in das
Familienschicksal während des Nationalsozialismus bekommen“, sagt
sie schlicht. Vertreibung, Flucht, der Wunsch, einfach nur zu
überleben – all das begleitete sie ihr Leben lang, und so findet
sie ihr Engagement für die Flüchtlinge nun einfach „passend“.
Ähnlich
sieht das ihr Lebensgefährte Christian Kühnel, der schon als
sechsjähriger Knirps mitbekam, was es heißt, die Heimat in der
ehemaligen DDR zu verlassen und ein halbes Jahr in einer Turnhalle
als Notaufnahmelager zu hausen, in der nur aufgehängte Decken
notdürftig ein wenig Privatsphäre bescherten.
Gerade
und zielstrebig allerdings verlief sein Leben nicht. Künstler habe
er eigentlich werden wollen, sagt er. Schon mit 14 Jahren habe er in
Öl gemalt (im Foto unten ein Bild von ihm) – aber wie das so mit Träumen ist: Manchmal platzen
sie. Zufällig verschlug es ihn in eine
Anstellung als Operator – bis die
künstlerische Ader doch wieder durchbrach und er sein Diplom als Grafikdesigner machte.
Es folgte "ein längerer Griechenlandurlaub“ - so
könnte man die Zeit nach dem Studium vielleicht am ehesten
beschreiben. Eine glückliche Zeit, denn es gelang ihm der Spagat
zwischen Kunst und Broterwerb, beruflichem Alltag und – nun ja –
griechischem Leben auf der Insel Santorin, gefolgt von einer längeren Ausgrabungstour durch Ägypten. Wenn er
erzählt und dabei in sich hineinschmunzelt und seine behaglich
schnurrende Katze streichelt, kann man sich gut ausmalen, dass diese
Lebensphase durchaus auszuhalten gewesen ist. „Aber irgendwann", sagt er und zieht vorsichtig die Schultern hoch, "irgendwann hat
das Lotterleben doch mal aufgehört.“
Während
dieser Phase kam er über den damaligen Baden-Badener Verleger Hans Frevert mit der
Arbeit von amnesty international in Kontakt, vor allem, als er einen
jungen Schriftsteller aus Chile kennenlernte, der seine
Fluchtgeschichte nach dem Allende-Sturz in einem Jugendbuch
verarbeitete. Das war für Christian Kühnel der Auslöser, sich für
die Asylarbeit zu interessieren. In seiner damligen Wohnung mitten in der Altstadt
eröffnete er die erste Asylberatungsstelle Baden-Badens.
Über
diese Arbeit kam sich das Paar Kühnel/Loeben folgerichtig näher.
Christian Kühnel weiß noch genau, wann er seine Sibylle zum ersten
Mal sah: „1986 war das, nach Tschernobyl, bei einer Veranstaltung im
ehemaligen Wienerwald. Da saß sie dabei – und strickte.“ Er
lacht verschmitzt, als er ihr überraschtes Gesicht sieht. „So,
jetzt weißt du's endlich!“
Es
blieb erst einmal bei diesem ersten Blick und so dauerte es noch neun Jahre,
ehe die beiden wirklich zusammenfanden und 2008 heirateten. Das ergab sich später
irgendwie zwangsläufig über die gemeinsamen Interessen.
Seitdem
sind die beiden für viele Jahre das Aushängeschild des
Arbeitskreises Asyl in Baden-Baden gewesen. Sie haben viel erlebt in
der Zeit, in Wellenbewegungen kamen und gingen die Schutzsuchenden
auch in Baden-Baden. An das Jahr 1993 erinnern sie sich besonders,
als knapp eine halbe Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen – zusätzlich zu
zahlreichen Aussiedlern. In jenem Jahr zählte man an die 700
Asylbewerber in Baden-Baden, kein Vergleich zu heute, finden die
beiden.
Neuerdings
ist wieder viel zu tun. Sie sind selbst von der Entwicklung
überrascht, denn noch vor einem Jahr habe niemand gedacht, wie
schnell sich die Situation ändern würde. Und so sind sie dankbar,
dass sich auch die Zahl der Helfer im Arbeitskreis in den letzten
Monaten rasant vergrößert hat. Auch wenn nicht alle Asylbewerber zu
ihnen in die Sprechstunde kommen, wäre Pensum sonst nicht zu
schaffen.
Die
ehrenamtliche Arbeit ist hart. Manch einer der Weggefährten von
einst ist längst nicht mehr dabei, denn die Schilderungen der
Schützlinge über Verfolgung und erlittene Folter sind nicht leicht
auszuhalten. Besonders schwer wird es, wenn man den Menschen, die man
über Wochen, Monate oder sogar Jahre intensiv begleitet hat,
irgendwann doch mitteilen muss, dass es keine Hilfe geben wird, dass
sie wieder zurück ins Elend ihrer Herkunftsländer müssen.
Sibylle
Loeben stöhnt leise. Es ist ihr anzusehen, wie schwer ihr das fällt. „Da
sitzt dann ein Mensch vor mir, der zerbricht, und ich kann ihn nicht
auffangen, kann ihm nicht helfen...“ Sie stockt, bemüht das Wort
„berufliche Distanz“, aber „es ist eben nicht Beruf“. Und je länger man die
betroffene Person kenne, umso schlimmer sei es. „Ich war, bevor ich
mit der Beratung begonnen habe, mit Sicherheit ein heitererer
Mensch“, gibt sie unumwunden zu, und so fällt es ihr schwer, sich
vor der Kamera ein Lächeln abzuringen.
Ganz
schlimm sei es, wenn bei Menschen, die einem im Laufe der
Beratungszeit ans Herz gewachsen sind und die abgeschoben wurden,
wenig später der Kontakt abreißt – und das manchmal für immer.
Da könne man sich ja vorstellen, was ihnen zugestoßen sein könnte.
In solchen Fällen müsse man sich sehr zur Distanz zwingen, „sonst
kann man das nicht lange durchhalten.“
Aber
es gibt sie natürlich auch, die Freude, wenn es geklappt hat mit der
Anerkennung. „Es können sich echte Lebensfreundschaften
entwickeln“ – darüber sind sich die beiden einig. Und schon wird
das Duo Loeben/Kühnel wieder lebendig, erzählt von einem „ziemlich
heftigen Fall“, der bleiben durfte und schließlich sogar ein Kind
nach ihnen benannt hat, oder von einem, dem sie einst geholfen haben,
und der ihnen anschließend seinerseits eine Zeitlang bei der
Beratung zur Seite stand.
Was
treibt jemanden an, jede Woche neben der eigenen Berufstätigkeit
zehn bis zwölf Stunden in der Flüchtlingsarbeit zu helfen?
Christian
Kühnel: „Wir haben mit Sicherheit kein Helfersyndrom.“ Nein, es
ist etwas ganz anderes: „Es muss einfach sein. Ich möchte, dass
die Leute ihr Recht bekommen, ein Recht, dass wir, die wir eine
Heimat haben und beschützt sind und einen Beruf ausüben, uns doch
jeden Tag herausnehmen.“
Sibylle
Loeben ergänzt: „Es ist - bei unserer geschichtlichen
Vergangenheit - einfach unser Schuldigkeit. Wir haben
Massenverbrechen verübt und Krieg über Europa gebracht, in dem
viele Millionen Menschen ihr Leben ließen. Wie können wir uns als
Staat da hinstellen und sagen: Wir nehmen keine Flüchtlinge mehr
auf!?“
Was
machen sie, um sich abzulenken?
Immer
noch stricken?
Da
lacht Sibylle Loeben. „Manchmal, in Versammlungen, um nicht
auszuflippen.“
Malen?
Christian
Kühnel schüttelt den Kopf. Das Kapitel Kunst steht für angestellten Druckereimitarbeiter nicht mal auf
der Agenda für den herannahenden Ruhestand.
Neben
Beruf und Ehrenamt bleibt ihnen ohnehin nicht viel freie Zeit, und
die verbringen sie zum großen Teil mit ihrer Landwirtschaft.
Aber
wenn sie wirklich einmal Kraft tanken müssen, dann zieht es sie in
den Wald. Dort kennen sie eine Stelle, wo jeder für sich sitzen,
abschalten, durchatmen und – ja, tatsächlich! – auch entspannen
kann.
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Und nach all den Jahren wurden die beiden im Juni 2017 von der Oberbürgermeisterin der Stadt Baden-Baden, Margret Mergen, für ihr großes Engagement mit Dankesurkunden ausgezeichnet. Hier geht es zur Rede Christian Kühnels, mit der er der OB antwortete => KLICK
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Und nach all den Jahren wurden die beiden im Juni 2017 von der Oberbürgermeisterin der Stadt Baden-Baden, Margret Mergen, für ihr großes Engagement mit Dankesurkunden ausgezeichnet. Hier geht es zur Rede Christian Kühnels, mit der er der OB antwortete => KLICK