Vorsicht:
Diese Begeisterung ist ansteckend!
Man
sollte Sebastian Diziol ein Warnschild ans Revers heften. „Vorsicht:
Ansteckend!“, sollte darauf stehen. Dieser Mann ist nämlich so
mitreißend, kann sein Umfeld so von seiner Leidenschaft überzeugen,
dass man ihm am Ende alles abkaufen würde – sogar ein dickes Buch
mit dem unendlich spannenden Titel „Franz Simon Meyer – Die ganze
Geschichte meines gleichgültigen Lebens“.
Der
34jährige Historiker aus Baden-Baden macht zurzeit bundesweit Furore
mit diesem Buch, das er gar nicht selbst verfasst, wohl aber
entdeckt, bearbeitet und herausgegeben hat. Geschrieben hat es ein
anderer, nämlich eben jener Franz Simon Meyer, und das bereits vor
200 Jahren. Jahr für Jahr hatte der Mann sich einst zur
Silvesterzeit hingesetzt und das vergangene Jahr Revue passieren
lassen – 1500 Seiten in gestochen klarer, für heutige Augen leider
unlesbarer Schrift, kamen so im Laufe seines Lebens zusammen. Und was
für Seiten! Diziol, der Entdecker, gerät schier aus dem Häuschen,
wenn er davon berichtet.
Wir
treffen uns Stunden vor der offiziellen Buchvorstellung in
Baden-Baden im Café der Kunsthalle, und begeistert zieht er seinen
Schatz aus der abgewetzten Leder-Aktentasche. „Haben Sie es
überhaupt schon gesehen?“, fragt er und hält mir das Buch hin wie
einen Rohdiamanten. Druckfrisch ist es, dick, schwer, gebunden,
aufwändig aufgemacht, mit vielen Zeichnungen, Bildern, Briefen,
Quellenhinweisen und Randnotizen, die das Lesen angenehm machen.
Ich
will eigentlich gar nicht über das Buch schreiben, sondern über den
Menschen, der es entdeckte, aber natürlich kann sich niemand diesem
Feuerwerk der Leidenschaft entziehen, das Sebastian Diziol mit seiner
authentischen, sympathischen Art abbrennt. Am Ende hat er es
geschafft, wir haben fast nur über das Buch und Franz Simon Meyer
geredet, und das war so mitreißend, dass nicht nur er mit glühenden
Wangen dasitzt. Keine Frage: er lebt, liebt, und atmet dieses Buch.
Wie
kam es zu dieser Liebe? Oder – anders gefragt – wie kommt ein
junger Mann dazu, nach dem Abitur ein Studium der
Geschichtswissenschaft zu wählen?
Das
war nie eine Frage gewesen für Sebastian Diziol. Schon als Kind
liebte er Geschichte und Geschichten. Seine Eltern – der Vater ist
Künstler - nahmen ihn früh in Museen mit, die Familie reiste viel,
besonders spannend waren da natürlich Ausflüge zu alten Burgen.
Andächtig lauschte Diziol dann den Geschichten über die Ritter.
Dann – da war er so fünf oder sechs – begann der Vater, ihm
Asterix-Hefte vorzulesen. Römer! Gallier! Wer sind die? Wann lebten
die? Warum schlugen die sich? Alles wollte der Junge wissen.
Mit
12, 13 Jahren stand für ihn fest: Wenn ich groß bin, mache ich
etwas mit Geschichte.
Und
so war es dann auch.
Das
Grundstudium in Karlsruhe faszinierte ihn von Anfang an. Warum? Was
ist so spannend daran?
Da
muss der Historiker nicht lange nachdenken: „Die Erkenntnis, dass
es keine absolute Wahrheit gibt, sondern nur viele Perspektiven über
ein Ereignis.“
Aber
dann packte es ihn doch, Geschichte aus nur einer einzigen
Perspektive zu inhalieren, nämlich aus der von Franz Simon Meyer.
Den entdeckte er 2004, als er die Zeit bis zu seinem Masterstudium in
England mit einem Praktikum im Stadtarchiv seiner Heimatstadt
Baden-Baden überbrückte. Die Leiterin des Archivs, Dagmar Rumpf,
zeigte ihm eines Tages die „Jahrbücher“ des Franz Simon Meyer,
zwei großformatige, in rotem Leder gebundene Bände, unglaubliche
1500 Seiten dick und ziemlich zerfleddert. Mühsam versucht er, die
in deutscher Schrift verfassten Seiten zu entziffern. Und war schon
beim Vorwort „hin und weg“, wie er berichtet. Hier schrieb einer,
der genauso alt war wie er, vor 200 Jahren, dass er vorhabe, ein Buch
mit seinem Leben zu füllen. Und dass er hoffe, das Buch möge später
„des Erfreulichen viel, des Traurigen nur wenig“ enthalten.
Schnell
wurde dem Studenten klar, welch einen Schatz er gehoben hatte: Mit
diesen Aufzeichnungen konnte man quasi das gesamte 19. Jahrhundert
erklären. Meyer (geboren 1799, gestorben 1871) schrieb über das
Leben seiner Familie, über seine Reisen, die politischen Ereignisse
und seine Geschäfte als Kaufmann in Rastatt und später als Bankier
in Baden-Baden, der zu einem der wichtigsten Kreditgeber für Edouard
Bénazet und die Spielbank wurde.
Die
Bekanntschaft zwischen Diziol und Meyer währte jedoch erst einmal
nur kurz, denn Diziol musste weiterziehen. Aber der Stachel saß.
„Wenn ich mal groß bin, mache ich etwas mit dem Werk“, das
schwor er sich.
Aber
es sollte noch zwölf Jahre dauern, bis er seinen Traum verwirklichen
konnte, denn zunächst führte ihn sein Masterstudium nach England,
dann fesselte ihn seine Doktorarbeit über den Deutschen
Flottenverein, einen Propaganda-Verein, dessen Zweck es war, die
Öffentlichkeit Anfang des 20. Jahrhunderts für den Aufbau einer
Marine zu begeistern. 860 Seiten stark wurde das Werk, fünf Jahre
schrieb er daran und suchte währenddessen 24 Archive auf.
Geduld
und ein langer Atem sind offensichtlich sein Metier.
Grundvoraussetzung für den Beruf eines Geschichtswissenschaftlers.
Als
Diziol schließlich eine Anstellung als Lektor in dem kleinen
geschichtswissenschaftlichen Solivagus-Verlag in Kiel bekam, flammte
seine alte Liebe wieder auf. Er berichtete dem Verleger und seinen
gleichgesinnten Kollegen von seinem einstigen Fund in Baden-Baden.
Wer Sebastian Diziol jemals über dieses Thema hat sprechen hören,
der ahnt, wie es geschah, dass sich die ohnehin leidenschaftlichen
Historiker für das Projekt entflammen ließen.
Herausgekommen
ist nun keine Zusammenfassung oder eine handliche Biographie oder ein
eingängiger Historienroman, sondern das, was eben dabei herauskommt,
wenn sich ein Geschichtswissenschaftler ans Werk macht: Der
Originaltext wurde ins heute gängige Schriftbild übersetzt und mit
Randbemerkungen für das bessere Verständnis garniert, reich
bebildert nach historischem Vorbild, über 600 Seiten dick – und
das ist nur der Anfang, Band zwei und drei werden in den nächsten
Jahren ähnlich umfangreich folgen.
Nicht
gerade ein Buch, das man in den Strandurlaub mitnimmt.
Überhaupt:
Wer soll denn Zielgruppe sein? Wer soll diesen ersten von drei Bände
lesen, der ja nur die Jugendjahre Meyers bis zum Jahr 1828
widerspiegelt?
Diziol
wischt alle Bedenken mit einer begeisterten Handbewegung vom Tisch.
„Das liest sich wie ein historischer Roman. Das ist spannend und
wirklich!“
Und
die Länge?
Er
lacht. „Und Harry Potter?“, fragt er zurück.
Natürlich
sei das Buch nicht leicht zu lesen, es fordere den Leser, aber es
belohne ihn, ähnlich wie es einem bei der Lektüre von Thomas Mann
gehe. Außerdem spreche das Buch natürlich auch das Fachpublikum an,
deshalb habe er viel Sorgfalt auf die Edition der Quellen gelegt.
Diziol
kann gar nicht mehr aufhören, das Buch zu loben, so dass sich die
Frage aufdrängt, wie dieses Werk sein eigenes Leben beeinflusst hat.
Nun,
Feierabend gab es vermutlich die vergangenen Jahre nicht oft. Ein
Jahr allein brauchte Diziol für die Abschrift des ersten Teils, dann
wurde alles kommentiert und in Form gebracht. Das ging nur mit
Unterstützung seiner Frau, die zwar fachfremd ist, aber volles
Verständnis für die Leidenschaft ihres Mannes aufbrachte - und noch
weitere vier Jahre wird aufbringen müssen, denn so lange wird es
wohl noch dauern, bis der zweite und dann der dritte Band auf dem
Markt sein werden. Und danach?
Was
wünscht man sich, wenn man sich den einen großen Traum erfüllt
hat?
Zu
allererst „die Leser, die das Buch verdient“.
Und
dann natürlich ein bisschen mehr Zeit seine kleine Familie, der Sohn
ist gerade mal vier Monate alt. Auch die Musik könnte wieder etwas
mehr in den Vordergrund rücken. Gitarre, Klavier, Akkordeon sind
seine Instrumente, die Richtung seiner Band in Kiel beschreibt er als
maritimen Folk-Rock.
Kitzelt
es jemanden, der Jahrbücher eines Fremden herausgegeben hat, selber
zur Feder zu greifen und allabendlich oder einmal im Jahr Ereignisse
aus dem eigenen Leben festzuhalten? Nein, das ist keine Option für
einen Geschichtswissenschaftler. Er beschäftigt sich weitaus lieber
mit dem Leben anderer als mit dem eigenen Bauchnabel.
Und
so erscheint es nur folgerichtig, was er mir ganz Schluss und eher
insgeheim verrät, als ich ihn nach seinen Zukunftsplänen befrage.
Erst druckst er ein bisschen herum, als wüsste er nicht recht, ob
und was er verraten soll und darf. Aber dann – der Leidenschaft sei
Dank! - bricht es doch aus ihm heraus: „Doch ja“, gesteht er, es
gäbe da durchaus eine Idee. „Das wird wieder ein Buch mit
historischem Stoff, der mich fesselt...“ Und seine Augen funkeln
dabei, als wollten sie am liebsten sofort das nächste Feuer
entzünden. Wie gesagt: Vorsicht, ansteckend!
*
Aber
erst einmal geht es wie geplant weiter:
Am
9. Oktober 2017 erscheint im Verlag Solivagus Praeteritum der zweite
Band:
Franz
Simon Meyer: Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Leben. Band
2 · 1829 – 1849. Franz Simon Meyer in Zeiten der Revolution.
Herausgegeben von Sebastian Diziol.
Der
zweite Band steht ganz im Zeichen von Revolutionen: Die
Industrialisierung, Eisenbahnbau und Dampfschifffahrt,
gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen und schließlich die
Revolution von 1848/49 bilden die bewegte Kulisse, in der sich das
Leben Franz Simon Meyers abspielt. Höhepunkt des Buches ist die
Schilderung seiner Flucht aus dem revolutionären Rastatt, in dem er
seine Frau und seine neugeborene Tochter zurücklassen muss, und der
preußischen Belagerung der Stadt.
Die
Publikation des dritten Bandes ist für Herbst 2018 geplant.
Feierliche
Buchvorstellung durch den Herausgeber Dr. Sebastian Diziol am 20.
Oktober 2017 um 19 Uhr im Stadtmuseum Baden-Baden.
Lesung
am 26. Oktober um 19 Uhr in der Sibylla-Augusta-Buchhandlung in
Rastatt und