Talent mit großer Leidenschaft
Hand
aufs Herz: Würden Sie persönlich alles, wirklich alles, auf eine
Karte setzen? Sicherheit, Familienfrieden, Zukunftsperspektive
eintauschen gegen die große Leidenschaft? Nun, manchmal geschieht
das unter der Rubrik „Midlifecrisis“. Aber was würden Sie sagen,
wenn Ihre Tochter oder Enkelin im Abiturjahr alles hinschmeißt, um
sich selbst zu verwirklichen, weil sie genau weiß, womit sie
glücklich werden wird, und weil sie dieses Ziel beharrlich verfolgen
will, nein – muss? Ist so etwas nun ein Zeichen von großem Mut
oder von bodenlosem Leichtsinn? - Wie viele Bedenken schießen Ihnen
gerade durch den Kopf?
Hanna
Thienel ist so ein Mädchen – oder besser: so eine junge Frau. Oder
noch besser: So eine besessene Künstlerin. Ich bin über Facebook
auf sie aufmerksam geworden, wo sie regelmäßig atemberaubende Fotos
postet. Portraits vor allem, die aussehen wie ein Gemälde,
unwirklich schön, verfremdet, arrangiert, auf eine andere Ebene
entrückt.
Sie
hat für die Geschäftseröffnung einer Freundin Markenzeichen-Fotos
erschaffen, wie es sie kein zweites Mal gibt. Inzwischen werden diese
Fotos als Postkarten verkauft, und selbst wenn jemand sie tatsächlich
in den Briefkasten wirft – spätestens der Empfänger wird sie
unweigerlich aufheben, oft sogar rahmen und aufhängen.
Wir
verabreden uns für unser Gespräch, ohne uns zuvor gesehen zu haben.
Ein „blind date“, sozusagen.
Draußen
hängt ein grauer Herbstnachmittag in den Straßen. Die
Rückversicherer wuseln in dunklen Anzügen durch die Stadt. Im Café
König geht alles seinen gewohnten entschleunigten Gang. Ich habe
einen Platz am Fenster, bin gespannt: Werden wir uns überhaupt
erkennen?
Was
für eine Frage! Ein Blick nach draußen, und ich weiß: Das ist sie!
Da steht sie also, mit dem Rücken zum Café – aber genauso muss
eine Künstlerin aussehen.
Lange,
rot-goldene Locken, helle Augen, knallroter Mund, energisches Kinn –
so sitzt sie kurze Zeit später am Tisch. Selbstbewusst, aber nicht
aufgesetzt, schön wie ein Gemälde, aber irgendwie auch wie aus der
Zeit gefallen. Wie die Fotografien, mit denen sie derzeit viele
Menschen in ihrer Heimatstadt Baden-Baden verzaubert.
Gerade
mal zwanzig Jahre ist sie alt, aber sie weiß ganz genau, was sie
will und was sie glücklich macht. So glücklich, dass sie alles auf
diese eine Karte setzt: Fotografieren. Punkt.
Schon
als Kind mit drei Jahren, so erzählt sie freimütig, habe sie alles
bemalt, was ihr zwischen die Finger kam. Leere Flächen? Gab es für
sie nicht. In Nullkommanichts hatte sie sie ausgemalt. Kreativität
im Überfluss! Auch die Musik wurde ausprobiert. Singen, Lieder
schreiben, Instrumente lernen, dies aber nur zum Spaß, „nur für
mich“.
Mit
acht ein erster Meilenstein: Sie erbettelt sich vom Vater dessen alte
Digitalkamera, nicht besonderes, jedes Handy macht heute bessere
Aufnahmen. Aber der Grundstein ist gelegt, spielerisch gleitet sie
immer tiefer in ihre Leidenschaft. „Ich habe damals wirklich alles
fotografiert, von der Ameise bis zum großen Landschaftsbild“,
erinnert sie sich lachend, und der Vater habe sie dabei stets
unterstützt, denn er verstand, was in ihr vorging, fotografierte und
filmte er doch selberfür sein Leben gern – während die Mutter
eher eine handwerkliche Ader hatte und sich aufs Dekorieren verlegte.
Tochter
Hanna vereinte irgendwann beides. Mit 14 Jahren, um genauer zu sein.
Da stöberte sie im Internet einen Fotografen auf- sein Name spielt
heute keine Rolle mehr. In einer Dezembernacht war das, das weiß sie
noch ganz genau. Stundenlang klickte sie sich in dieser Nacht durch
dessen Fotos – und fand ihre Bestimmung. Alles, was sie bis dahin
gemacht hatte, lief fortan unter Vergangenheit, „nur für mich“,
Spaßfaktor.
Hier,
bei Durchsicht dieser professionellen Bilder, wurde ihr klar:
„Fotografieren ist mehr als nur Hobby. So will ich ab sofort
arbeiten.“
Und
sie wusste auch genau, WIE. Eine willige Freundin war flugs als
Fotomodell zur Hand, und los ging es, raus auf ein Feld. Zwölf
Stunden am Stück, wie besessen, schoss sie nun Fotos von ihrer
Freundin – mit immer wechselnden Outfits, in wechselnden
Positionen... „Ich war wie geflashed“, erinnert sie sich. Danach
sei sie einfach nur kaputt gewesen - und selig! „Bei jedem Bild,
das ich mir danach zuhause ansah, habe ich mich gefreut, ich fand
unfassbar, dass ich so etwas Tolles machen konnte.“
Im
Nachhinein wiegt sie eher nachsichtig den Kopf. „Wenn ich mir die
Sachen heute ansehen – naja...“
Aber
damals vergingen die Weihnachtsferien wie im Fieberwahn. Sie fühlte
sich frei, zum ersten Mal in ihrem Leben. Ein unglaubliches Gefühl.
Nach
den Ferien – die harte Landung in der Realität, das Gegenteil vom
Freisein: „Alles wurde mir vorgeschrieben, ich konnte einfach
nichts frei machen in der Schule.“ Nur im Kunstunterricht lebte sie
auf, der hätte für sie 40 Stunden pro Woche dauern können...
Als
irgendwann das Thema Selbstdarstellung auf dem Lehrplan stand, und
Rembrandts Portraits mit Fotografien von Cindy Sherman verglichen
wurde, konnte sie endlich raus aus ihrem Korsett, konnte dem Lehrer
zeigen, welch in fotografisches Talent in ihr schlummerte. Er war
begeistert, ermunterte sie weiterzumachen.
Das
Ergebnis fiel anders aus, als Lehrer oder Eltern sich das gedacht
hatten: Hanna schmiss die Schule hin, ausgerechnet im letzten
Schuljahr, Monate vor dem Abitur. Macht man das? Ist das klug? Nein!
Sagt das soziale Umfeld. Doch! Sagt die junge Künstlerin. „Wie
kannst du nur“, fragt die Umwelt. „Wie kann ich sonst ich selber
sein?“ fragt sie zurück.
Sie
seufzt.
Der
Zeitpunkt war überreif, schon so lange hatte sie das Gefühl, sie
brauche all ihre Zeit und Energie zum Fotografieren, zum Gestalten,
zum Tüfteln. „Ich mache ja alles selbst, Make-up, Outfit,
Frisuren...“
Der
Erfolg gab und gibt ihr Recht. Erste Aufträge trudelten ein,
irgendwann die Anfrage, eine Fotoserien für eine Geschäftseröffnung
zu produzieren. Eine Riesenchance, und die Resonanz spricht für
sich. Aber passen Leidenschaft und Geschäft zusammen? Diese Frage
stellt sich die junge Künstlerin natürlich auch. „Wenn du es
nicht probierst, wirst du es nie wissen“, sagte sie sich
irgendwann. Und so fotografiert sie nun mit zwei Seelen in ihrer
Brust – privat zur Verwirklichung und professionell für
Auftragsarbeiten nach den Vorschlägen und Vorstellungen fremder
Leute – mit einer Einschränkung: „Ich möchte immer dahinter
stehen, was ist tue.“
Ende
gut – alles gut? Nicht ganz. Denn die Zweifler, die wird man als
junge Schulabbrecherin so schnell nicht los. Sie sitzen im Ohr und am
Küchentisch. „Mach was Richtiges!“, raunen sie. Noch wehrt die
Künstlerin sich vehement: „Ich will mir nicht einen Job suchen,
damit sie zufrieden sind, wenn mich das nicht glücklich macht.“
Gleichwohl
sieht sie auch, dass sie selbst für ihre Kunden nicht nur Talent und
Können, sondern auch offiziell erworbenes Wissen vorweisen sollte.
Also eine Ausbildung oder ein Studium der Fotografie? Lernen, mit
einer Kamera umzugehen etwa? Oder wie man Fotos nachbearbeitet? Aber
das weiß sie doch schon alles. „Bei all der Theorie – man muss
Ideen haben, die man umsetzen will und kann – und das kann man
nicht lernen.“
Allerdings
beginnen Ausbildungen immer erst im Herbst. Der Zeitpunkt für einen
Start von – irgendwas! - ist vorbei. Dabei wüsste sie inzwischen,
was es denn wäre, das sie noch weiterbringen könnte: Eine
Ausbildung zur Maskenbildnerin. Die Bewerbungen sind geschrieben, die
Daumen ihrer Fans gedrückt, dennoch heißt es nun, bis zum Beginn
des nächsten Ausbildungsjahres die Zeit zu nutzen und die Zweifler
verstummen zu lassen.
Wo
oder wie sieht sie sich in zehn Jahren?
„Glücklich
im eigenen Studio“, bricht es aus ihr heraus, und dann stockt sie
kurz und lacht. „Wobei: Glücklich bin ich ja bereits!“ - Wer
kann das schon von sich sagen!
Hanna
Thienel – wir werden noch viel von ihr hören und sehen. Eine
eigene Webseite gibt es noch nicht, aber ihre Facebook-Seite ist auch
für nicht registrierte Besucher öffentlich einsehbar: KLICK