Kulleraugen mit
politischem Anspruch
Mädchen mit riesigen Kulleraugen bevölkern seit heute das Burda-Museum. Sie scheinen ärgerlich zu sein, andere sind ängstlich, verletzlich, niedlich, meditativ – das macht etwas mit dem Betrachter, denn es sind keineswegs seelenlose Comic-Figuren, sondern sie geben einen intensiven Einblick in die Gefühlswelt ihres Erschaffers, Yoshitomo Nara.
Weltbekannt ist der Künstler, seine Werke erzielen auf dem Kunstmarkt Millionen Euro.
Vom 23. November 2024 bis 27. April 2025 zeigt das Museum Frieder Burda in Baden-Baden nun in enger Zusammenarbeit mit der Hayward Gallery in London und dem Guggenheim Museum Bilbao (wo die Ausstellung kürzlich 650 000 Besucher anzog) 127 dieser Werke, die man aus 31 internationalen Sammlungen zusammengetragen hat. Ein Kraftakt in der heutigen Zeit!
Zur Eröffnung ist der Künstler persönlich vor Ort, akribisch hat er sich auf diesen Moment vorbereitet. Anhand eines maßstabsgerechten Modells hatte er in seinem Studio die Wirkung seiner Bilder im Burda-Museum getestet, und seit letzten Sonntag setzte er nun diese Ideen direkt vor Ort um. „Die Bilder tanzen regelrecht, sie haben einen Rhythmus, der an Musik erinnert“, schwärmte denn auch der neue künstlerische Leiter des Museums, Daniel Zamani, während der Pressekonferenz.
Zamani hob hervor, dass im Hauptsaal im Erdgeschoss bewusst keine der berühmten „Angry girls“ des Künstlers zu sehen sind, sondern spätere Werke des Künstlers, die nach dem großen Seebeben in Japan am 3. November 2011 entstanden, in dessen Folge ein Tsunami das Kernkraftwerk in Fukushima zerstörte und 22.000 Todesopfer forderte. Seitdem tritt Naras politische Haltung immer deutlicher zutage. Er unterstützt mit seiner leicht verständlichen Bildsprache globale Initiativen, die Anti-Atomkraft-Bewegung und Kampagnen, die auf ökologische Probleme aufmerksam machen.
Politisch engagiert sich Nara aber nicht erst seit 2011, wenngleich dieses Jahr für sein Gesamtwerk einschneidend war. Seine Werke sind aber schon von Beginn an mit seiner ganz persönlichen Geschichte verbunden. Sie erzählen von den einsamen Kindheitstagen in Japan, von der Isolation, die er während seiner Studienzeit in Deutschland erlebte, von seiner politischen Auflehnung und seiner Liebe für Underground, Folk und Rock, für Literatur, Kino und Natur und von der Geschichte der japanischen und europäischen Kunst.
Yoshitomo Nara wurde 1959 in einem Dorf im Norden der Hauptinsel Japans geboren. Die Eltern berufstätig, die Geschwister erheblich älter, fühlte er sich isoliert und einsam und flüchtete in Fantasiewelten, wie Daniel Zamani beim Presserundgang erläuterte. Zeugnis für seine Kindheit legt im Hauptsaal des Museums ein nachgebautes japanisches Holzhaus ab, das der Künstler mit persönlichen Gegenständen (bis hin zum Kitsch – Katzen finden man übrigens immer wieder in seinen Werken) gefüllt hat. Ein Hingucker!
Bereits mit 8 Jahren baute Nara sich ein eigenes Radio und flüchtete in die Welt der Musik. Der nahegelegene amerikanische US-Forces-Stützpunkt brachte ihm Antikriegsbotschaften nahe, und er begann zu zeichnen, und das Zeichnen ist bis heute seine Lieblingsbeschäftigung neben der Malerei und der Bildhauerei, wie er den anwesenden Journalisten verriet.
Nach dem Masterstudium der Malerei in Japan zog es Yoshitomo Nara bereits 1980 nach Europa (wo er übrigens, als Rucksacktourist, auch zum ersten Mal Baden-Baden kennenlernte), hier studierte er die Originalwerke der europäischen Moderne und Gemälde aus dem frühen Mittelalter und der Renaissance. 1988 schrieb er sich an der renommierten Kunstakademie in Düsseldorf ein, wo er ermuntert wurde, Zeichnung und Malerei miteinander zu verbinden. Während dieser Zeit entstanden seine charakteristischen Kinderzeichnungen mit den markanten großen Köpfen und den weit auseinanderliegenden Augen – die Nara-Girls waren geboren!
Drei Jahre später erfolgte sein künstlerischer Durchbruch, zunächst in Tokio, dann weltweit. Es wurde deutlich, dass er mit seinen Figuren den Nerv der japanischen Gesellschaft traf, die sich im Prinzip bis heute nicht mit den Geschehnissen in Japan während des Zweiten Weltkrieges auseinandergesetzt und diese aufgearbeitet hat, wie Zamani erklärte.
Es folgte ein geradezu kometenhafter Aufstieg, Naras Bilder erzielten Millionenpreise. Den Wendepunkt in seinem Schaffen bildete, wie erwähnt, das große Seebeben 2011,:Naras „angry girls“ wandelten sich nach einer Schaffenspause in meditative Tafeln, Mädchen in milchigem See, Mädchen mit zweiblättrigen Sprößlingen als Zeichen der Hoffnung in der Hand...
Mit anderen Worten: Es lohnt sich, die Ausstellung zu besuchen und sich auf die Denkweise und den politischen Anspruch dieser nur auf den ersten Blick Comic-haft wirkenden Werke einzulassen! Es gibt eine Audiotour auch auf Englisch und Französisch, sowie sehr gut verständliche schriftliche Erläuterungen in den einzelnen Sälen.
Die Ausstellung im Burda-Museum läuft bis 27. April, es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm mit zahlreichen Mal-Workshops für Jung und Alt.
Mehr Informationen => https://www.museum-frieder-burda.de/ausstellung