Sonntag, 25. Oktober 2015

Angelika Schindler


Menschen in Baden-Baden, heute:

Angelika Schindler


Wie das Leben so spielt: Monatelang haben wir um einen passenden Gesprächstermin gerungen, jetzt haben wir es endlich geschafft, und schon sind wir mitten drin in „ihrem“ Thema, denn genau in diese Zeit zwischen Gespräch und Veröffentlichung des Interviews fällt nun der 75. Jahrestag, der als schwärzester Tag in die Geschichte Südwestdeutschland einging: Innerhalb weniger Stunden wurde am 22. Oktober 1940 fast alle Juden Badens, der Pfalz und des Saarlandes in das südfranzösische Lager „Gurs“ deportiert. =>KLICK. Die meisten der 6 540 Menschen kamen in den folgenden Jahren um. Das Gedenken an sie hält in Baden-Baden Angelika Schindler vom Arbeitskreis „Stolpersteine“ lebendig, und sie macht das mit viel Engagement. Auch für den Gurs-Gedenktag in dieser Woche hat sie zusammen mit ihrem Arbeitskreis mehrere Schulen animiert, sich an elf verschiedenen Standorten in der Stadt mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.





Angelika Schindler war begeistert:



Sie sagt:
Es hat mich begeistert mit wie vielen Ideen die Jugendlichen bei unserer Aktion dabei waren. Da stand plötzlich ein Reisekoffer aus den 40er Jahren auf der Straße und ließ die Passanten stehenbleiben vor dem Haus, in dem einst Julius Nachmann wohnte. Nur eine Stunde Zeit hatte man ihm am 22.10.1940 gegeben, um seinen Koffer zu packen. Oder ein Chor in der Stephanienstraße 5 schilderte in mehreren Sprachen das Schicksal des 82jährigen Louis Weill. Von Durchgangsverkehr und eiligen oder desinteressierten Fußgängern ließen sich die Schüler nicht beirren. Ihr Lehrer meinte dazu: „Das ist eine wichtige Erfahrung. War es vor 75 Jahren nicht ganz ähnlich? Es passierte etwas und keiner schaute hin oder schaute weg.“




Wie sehr ihr ihre ehrenamtlichen Arbeit gegen das Vergessen am Herzen liegt, zeigt sich gleich zu Beginn unseres Interviews, das übrigens im Café König nur einen Tisch neben der Nische stattfindet, in der vor acht Jahren der Arbeitskreis Stolpersteine gegründet wurde: Privates, so stellt Angelika Schindler gleich klar, möchte sie nicht von sich preisgeben, umso mehr aber sprudelt es aus ihr heraus, wenn wir über ihre Herzensangelegenheit reden. Zu der sie übrigens eher durch Zufall kam. Aber gibt es überhaupt Zufälle?

Nun, in die Wiege gelegt wurde ihr die Aufarbeitung der Geschichte der Baden-Badener Juden jedenfalls nicht. Vor nicht ganz 60 Jahren in den USA geboren, wuchs sie in verschiedenen Ländern auf, bis der unternehmungslustige Vater schließlich für längere Zeit in Norditalien hängenblieb, wo sie die Europäische Schule besuchte. Ein Leben an der Oberfläche, wie Angelika Schindler dies empfand, sie hatte zwar internationale Kontakte in dieser Schule, aber das wahre Leben Italiens spielte sich außerhalb ab. „Eine deutsche Kindheit in Italien“ sei das eher gewesen, das habe sie immer als Defizit empfunden, gesteht sie. Deshalb zog es sie nach dem Abitur, als sie längst in Freiburg Geschichte und Englisch fürs Lehrfach studierte, in den Semesterferien immer wieder nach Italien zurück.

Als sie das Studium mit dem zweiten Staatsexamen beendet hatte, endete auch ihr Plan, Lehrerin zu werden: Lehrerschwemme. Einstellungsstopp. Nun war Kreativität gefragt. Und wie das Leben so spielt – es war gerade eine Fortbildungsstelle beim SWF in Baden-Baden frei, und so begann sie eine Ausbildung zur wissenschaftlichen Dokumentarin. Teil der Ausbildung war ein Praktikum, und – Zufall? – just zu dieser Zeit, 1988, suchte das städtische Museum in Baden-Baden jemanden, der eine Ausstellung zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms vorbereiten sollte. „Für eine Historikerin ein spannendes Angebot“, fand Angelika Schindler und griff erfreut zu.

Mit Feuereifer recherchierte sie die jüdische Geschichte und hatte Glück: „Es half mir, dass es viele der überlebenden Juden immer wieder zurück nach Baden-Baden zog“, und gerade die Vorbereitung auf den bundesweiten Jahrestag des Pogroms ließ viele von ihnen auch bei der Stadtverwaltung vorstellig werden. Über diese Adressenlisten schrieb Angelika Schindler den Betroffenen und bot ihnen an, ihr Schicksal zu dokumentieren.



Vier Jahre später gipfelten diese Kontakte und die Korrespondenz in der Veröffentlichung ihres Buches „Der verbrannte Traum – Jüdische Bürger und Gäste in Baden-Baden“ => KLICK, das fast zeitgleich mit einer weiteren Ausstellung im Stadtmuseum und einer „Woche der Begegnung“ herauskam. Eine spannende Zeit – in doppelter Hinsicht: Denn während das Buch langsam Gestalt annahm, auch wenn es dann erst eine Woche nach der Ausstellung fertig wurde, hatte es ihre Tochter um einiges eiliger. „Auf dem Weg in den Kreißsaal habe ich meinem Mann noch den Pressetext für die Ausstellung diktiert“, erinnert sich Angelika Schindler lachend.

Besonders bereichernd war es für sie, dass sie anlässlich dieser Ausstellung und der Woche der Begegnung sowie auch im Zuge der Recherche für ihr Buch viele Zeitzeugen treffen konnte. „Viele waren  sehr bereit, über ihre Erinnerungen zu sprechen“, berichtet sie.

Man blieb in Kontakt, Freundschaften entstanden, die Fäden liefen in die Niederlande, die USA, nach Frankreich und nach Israel. Für viele der Menschen wurde Angelika Schindler Bezugspunkt, ein kleines Stück der Heimat, die sie einst verlassen mussten.

Der einstige Besitzer des Schwarzwaldbasars, beispielsweise hing sehr an Baden-Baden. „Er konnte in Israel nie eine vergleichbare Existenz aufbauen.“ Sohn und Tochter kamen bis ins hohe Alter regelmäßig nach Baden-Baden. => KLICK

Zitat:

Robert Nachmann (geb.1884) führte zusammen mit seiner Frau Frieda den "Schwarzwald-Bazar" – die Adresse schlechthin für Spielwaren in Baden-Baden. Vor dem Ersten Weltkrieg tätigten hier viele prominente Kurgäste, u.a. Prinz Max von Baden, der Kronprinz und der König von England ihre Einkäufe.

ein Mann und ein Junge, beide in Militäruniform

Max und Robert Nachmann
Nach 1933 war nicht wenigen Parteigenossen das gut gehende Geschäft ein Dorn im Auge. Da war es nicht überraschend, dass man versuchte, dem Geschäftsmann das Leben schwer zu machen. "Nur mit Spazierstock und Hut", um kein Aufsehen zu erregen, ging er zu Fuß über die Grenze nach Frankreich, als ihm ein Devisenverfahren angehängt wurde. Das erzählte er später den Enkeltöchtern. Seine Frau und Tochter Irene folgten einen Tag später – mit nicht mehr als einem Koffer - zu Freunden nach Basel. Dort trafen sie auch Sohn Max wieder, der zu diesem Zeitpunkt Jura in Grenoble studierte. Ein Daueraufenthalt in der Schweiz wurde der Familie aber nicht gewährt.
Schließlich fanden die Nachmanns ein neues Zuhause in Palästina, wo sich die Familie völlig umorientieren musste.
Sohn Max konnte sein in der Schweiz begonnenes Jurastudium nicht fortführen. Robert Nachmann gelang es nicht mehr, ein neues Geschäft zu gründen, denn seine finanziellen Mittel reichten dazu nicht aus. Auch die Unkenntnis der hebräischen Sprache erwies sich als allzu großes Hindernis.

Enkelin Ruth erinnert sich: => KLICK


 
Eine tiefe Freundschaft entwickelte sich auch zwischen Angelika Schindler und der Familie Kahn => KLICK

Sohn Karl hatte es nach Dallas in den USA verschlagen. „Wäre die Anwaltsfamilie in Baden-Baden geblieben, wäre Karl Kahn wie sein Vater Jurist geworden und hätte ein gutbürgerliches leben geführt. So aber wurde er zu einem Handelsvertreter für Schmuck. Montags bis freitags unternahm er lange Autofahrten durch die unendlichen Weiten des mittleren Westens mit Koffern voller Schmuck. „Ich besuchte ihn einmal in USA und wir fuhren zwei ganze Tage durch die Landschaft: Drei Ölpumpen, sonst war weit und breit – nichts“. Angelika Schindler schüttelt den Kopf, wenn sie daran denkt.
Karl Kahn kam oft nach Deutschland und erzählt ihr eines Tages von Stolpersteinen, die er in Offenburg gesehen hatte. Angelika Schindler hörte aufmerksam zu – und die Idee des Arbeitskreises Stolpersteine war geboren. Die damalige Pfarrerin der Stadtkirche, die Leiterin des Stadtmuseums und die Stadtarchivarin waren schnell als Mitglieder des Arbeitskreises gefunden, später stießen zwei Koleginnen von ARTE und die jetzige Pfarrerin der Stadtkirche dazu. „Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen und ergänzen uns gut“, sagt Angelika Schindler.



Erst kürzlich wurden wieder neue Stolpersteine verlegt, hier Fotos von der Aktion in der Winterhalter Straße 1, 




in Gedenken an die am 22. Oktober 1944 nach Theresienstadt deportierte Gertrud Katz und ihre zwei Schwestern Maria Vierling und Martha Wingenroth. Ihrer Tochter, der späteren FDP-Stadträtin Leonore Mayer-Katz, gelang es im Mai 1945 auf abenteuerlichen Wegen, die Mutter und deren Schwestern zu befreien. Im Beisein von Enkelin Renate Buschert ...





... und Oberbürgermeisterin Margret Mergen 





verlegte der Künstler Gunter Demnig => KLICK Anfang September die Steine.

 


142 Stolpersteine sind seit dem Start der Aktion 2007 bis heute in Baden-Baden verlegt worden, und zwar nicht ausschließlich für jüdische Verfolgte. Auch an 14 Opfer der Aktion "T4", einen Zeugen Jehovas und drei Widerstandskämpfer wird inzwischen mit diesen Symbolen aus Messing gedacht. Die Recherchen dafür sind nicht einfach, gesteht Angelika Schindler. Oft durchforstet sie dafür auch die Archive anderer Städte – alles ehrenamtlich. Alle Mitglieder des Arbeitskreises sind berufstätig, manchmal reicht die Zeit wirklich nur für das Nötigste, weswegen auch die Webseite des Arbeitskreises auf dem Stand von 2013 stehengeblieben ist. Man ist auf Spenden angewiesen, die Suche nach Geldgebern raubt zusätzlich viel Zeit.

Mithilfe eines Konzepts, das Angelika Schindler mit Katrin Zipse und Johannes Weiß initiierte, bietet beziehungsweise bot zwischenzeitlich auch SWR2 akustische Stolpersteine aus dem gesamten Sendegebiet an: Kurze Hörstücke geben den Verfolgten des nationalsozialistischen Staates eine Stimme. Durch Gespräche mit überlebenden Familienmitgeliedern, Briefe und Tagesbucheinträge werden Fragmente ihrer Biografien hörbar. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren wurden die ein- bis dreiminütigen akustischen Stolpersteine zu unterschiedlichen Tageszeiten ins laufende SWR2-Programm gestreut. Seit dem 8. Mai 2015 sind diese Hörstücke weiterhin als Multimediaarchiv abrufbar. => KLICK und KLICK 

Im vergangenen Jahr organisierte die unermüdliche Angelika Schindler zusammen mit Heike Kronenwett vom Stadtmuseum in Kooperation mit SWR2 und Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg eine weitere Ausstellung im Stadtmuseum: „Weil eine Zahl keinen Namen hat“. => KLICK 

In dieser Ausstellung erinnerte eine Bildergalerie mit Porträts und Familienfotos aus glücklichen Tagen an die 131 Menschen, für die bis zu diesem Zeitpunkt Stolpersteine in der Stadt verlegt worden waren. Für so manchen fand sich kaum eine Spur, und der Bilderrahmen musste leer bleiben. Genauer beschäftigte sich die Ausstellung mit 18 Lebensgeschichten. Persönliche Gegenstände, die den Verfolgten am Herzen gelegen hatten oder eine zentrale Erfahrung ihres Lebens dokumentierten, ergänzten die Schau: Wie Karl Kahns Koffer zum Beispiel.



Auch Robert Nachmann wurde ein Teil der Ausstellung gewidmet. Er überlebte in Palästina. Für seine Enkeltöchter fuhr er nach dem Krieg nach Deutschland und kaufte Käthe Kruse Puppen – eine Kindheit ohne sie konnte sich der ehemalige Inhaber eines Spielwarengeschäfts nicht vorstellen. Angelika Schindler kann sich noch gut an die Recherche in diesem Fall erinnern - es war die Zeit des Gazakriegs im sommer 2014. Sie telefonierte gerade mit einer Tochter Nachmanns in Israel, um herauszufinden, welcher Gegenstand in der Ausstellung am besten für ihn sprechen könnte, als ein Bombenalarm am anderen Ende der Leitung das Telefonat jäh beendete. Angelika Schindler fasst sich auch heute noch an den Hals, wenn sie dran denkt. „Kurz danach aber erreichte mich schon eine Mail der Tochter, mit einem Foto einer Käthe-Kruse-Puppe aus den 50er Jahren.“



Wichtig ist Angelika Schindler in ihrem Kampf gegen das Vergessen auch immer die Zusammenarbeit mit jungen Menschen. Für die letztjährige Ausstellung arbeiteten die Kunstlehrer von drei Baden-Badener Schulen mit ihren Klassen das Thema auf. Unter dem Motto „Stolpersteine – was hat das mir zutun?“ konnten die Schüler das Thema frei in Szene setzen. Herausgekommen sind Bilder, die Angelika Schindler tief ergriffen haben => KLICK 


Und so freute sie sich diese Woche umso mehr zu erleben, was sich die Schüler von sechs Schulen zum Thema Deportation nach Gurs ausgedacht hatten.


Wie zeitlos ihr Engagement ist, hat sie übrigens vor zwei Wochen auf ganz andere Weise erlebt: Da habe sie im „Café international“ auf Drängen von Kolleginnen drei Nigerianern von ihrer Aktion Stolpersteine erzählt und war bei den Flüchtlingen auf ehrliches Interesse gestoßen. „Sie haben mir viele Fragen gestellt, denn sie kannten sich mit dem Thema Holocaust aus und konnten gut nachvollziehen, wie das ist, nur mit einem kleinen Bündel Habseligkeiten die Heimat verlassen zu müssen.“ Die drei Flüchtlinge bedrängten sie, ihnen einen Stolperstein in der Nähe zu zeigen. Es wurde ein berührendes Erlebnis. „Wir alle haben viel mitgenommen und haben voneinander gelernt: Wie denken sie, wie denken wir.“ Angelika Schindlers Augen glänzen, wenn sie daran denkt: „Da hat ein kleiner Stein ganz viel angestoßen“, sagt sie leise.




Zur Webseite des Arbeitskreises Stolpersteine geht es hier => KLICK

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