Menschen
in Baden-Baden, heute:
Angelika
Schindler
Wie
das Leben so spielt: Monatelang haben wir um einen passenden
Gesprächstermin gerungen, jetzt haben wir es endlich geschafft, und
schon sind wir mitten drin in „ihrem“ Thema, denn genau in diese
Zeit zwischen Gespräch und Veröffentlichung des Interviews fällt
nun der 75. Jahrestag, der als schwärzester Tag in
die Geschichte Südwestdeutschland einging: Innerhalb weniger Stunden
wurde am 22. Oktober 1940 fast alle Juden Badens, der
Pfalz und des Saarlandes in das südfranzösische Lager „Gurs“
deportiert.
=>KLICK. Die meisten der 6 540 Menschen kamen in den folgenden Jahren um. Das
Gedenken an sie hält in Baden-Baden Angelika Schindler vom
Arbeitskreis „Stolpersteine“ lebendig, und sie macht das mit viel
Engagement. Auch für den Gurs-Gedenktag in dieser Woche hat sie
zusammen mit ihrem Arbeitskreis mehrere Schulen animiert, sich an elf verschiedenen Standorten in der Stadt mit
der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Angelika
Schindler war begeistert:
Sie sagt:
Es hat mich begeistert mit wie vielen Ideen die Jugendlichen bei unserer Aktion dabei waren. Da stand plötzlich ein Reisekoffer aus den 40er Jahren auf der Straße und ließ die Passanten stehenbleiben vor dem Haus, in dem einst Julius Nachmann wohnte. Nur eine Stunde Zeit hatte man ihm am 22.10.1940 gegeben, um seinen Koffer zu packen. Oder ein Chor in der Stephanienstraße 5 schilderte in mehreren Sprachen das Schicksal des 82jährigen Louis Weill. Von Durchgangsverkehr und eiligen oder desinteressierten Fußgängern ließen sich die Schüler nicht beirren. Ihr Lehrer meinte dazu: „Das ist eine wichtige Erfahrung. War es vor 75 Jahren nicht ganz ähnlich? Es passierte etwas und keiner schaute hin oder schaute weg.“
Wie
sehr ihr ihre ehrenamtlichen Arbeit gegen das Vergessen am Herzen liegt, zeigt sich gleich zu Beginn unseres Interviews, das übrigens im
Café König nur einen Tisch neben der Nische stattfindet, in der vor acht Jahren der Arbeitskreis Stolpersteine gegründet wurde: Privates,
so stellt Angelika Schindler gleich klar, möchte sie nicht von sich
preisgeben, umso mehr aber sprudelt es aus ihr heraus, wenn wir über
ihre Herzensangelegenheit reden. Zu der sie übrigens eher durch
Zufall kam. Aber gibt es überhaupt Zufälle?
Nun,
in die Wiege gelegt wurde ihr die Aufarbeitung der Geschichte der
Baden-Badener Juden jedenfalls nicht. Vor nicht ganz 60 Jahren in den
USA geboren, wuchs sie in verschiedenen Ländern auf, bis der
unternehmungslustige Vater schließlich für längere Zeit in
Norditalien hängenblieb, wo sie die Europäische Schule besuchte.
Ein Leben an der Oberfläche, wie Angelika Schindler dies empfand,
sie hatte zwar internationale Kontakte in dieser Schule, aber das
wahre Leben Italiens spielte sich außerhalb ab. „Eine deutsche
Kindheit in Italien“ sei das eher gewesen, das habe sie immer als
Defizit empfunden, gesteht sie. Deshalb zog es sie nach dem Abitur,
als sie längst in Freiburg Geschichte und Englisch fürs Lehrfach
studierte, in den Semesterferien immer wieder nach Italien zurück.
Als
sie das Studium mit dem zweiten Staatsexamen beendet hatte, endete
auch ihr Plan, Lehrerin zu werden: Lehrerschwemme. Einstellungsstopp.
Nun war Kreativität gefragt. Und wie das Leben so spielt – es war
gerade eine Fortbildungsstelle beim SWF in Baden-Baden frei, und so
begann sie eine Ausbildung zur wissenschaftlichen Dokumentarin. Teil
der Ausbildung war ein Praktikum, und – Zufall? – just zu dieser
Zeit, 1988, suchte das städtische Museum in Baden-Baden jemanden,
der eine Ausstellung zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms
vorbereiten sollte. „Für eine Historikerin ein spannendes Angebot“, fand Angelika Schindler und griff erfreut zu.
Mit
Feuereifer recherchierte sie die jüdische Geschichte und hatte
Glück: „Es half mir, dass es viele der überlebenden Juden immer
wieder zurück nach Baden-Baden zog“, und gerade die Vorbereitung
auf den bundesweiten Jahrestag des Pogroms ließ viele von ihnen
auch bei der Stadtverwaltung vorstellig werden. Über diese
Adressenlisten schrieb Angelika Schindler den Betroffenen und bot
ihnen an, ihr Schicksal zu dokumentieren.
Vier
Jahre später gipfelten diese Kontakte und die Korrespondenz in der
Veröffentlichung ihres Buches „Der verbrannte Traum – Jüdische
Bürger und Gäste in Baden-Baden“ => KLICK, das fast zeitgleich mit einer
weiteren Ausstellung im Stadtmuseum und einer „Woche der Begegnung“ herauskam. Eine spannende Zeit – in doppelter Hinsicht: Denn
während das Buch langsam Gestalt annahm, auch wenn es dann erst eine Woche
nach der Ausstellung fertig wurde, hatte es ihre Tochter um einiges
eiliger. „Auf dem Weg in den Kreißsaal habe ich meinem Mann noch
den Pressetext für die Ausstellung diktiert“, erinnert sich
Angelika Schindler lachend.
Besonders
bereichernd war es für sie, dass sie anlässlich dieser Ausstellung
und der Woche der Begegnung sowie auch im Zuge der Recherche für ihr
Buch viele Zeitzeugen treffen konnte. „Viele waren sehr
bereit, über ihre Erinnerungen zu sprechen“, berichtet sie.
Man
blieb in Kontakt, Freundschaften entstanden, die Fäden liefen in die
Niederlande, die USA, nach Frankreich und nach Israel. Für viele der
Menschen wurde Angelika Schindler Bezugspunkt, ein kleines Stück der
Heimat, die sie einst verlassen mussten.
Der
einstige Besitzer des Schwarzwaldbasars, beispielsweise hing sehr an
Baden-Baden. „Er konnte in Israel nie eine vergleichbare Existenz
aufbauen.“ Sohn und Tochter kamen bis ins hohe Alter regelmäßig
nach Baden-Baden. => KLICK
Zitat:
Robert Nachmann (geb.1884) führte zusammen mit seiner Frau Frieda den "Schwarzwald-Bazar" – die Adresse schlechthin für Spielwaren in Baden-Baden. Vor dem Ersten Weltkrieg tätigten hier viele prominente Kurgäste, u.a. Prinz Max von Baden, der Kronprinz und der König von England ihre Einkäufe.
Max und Robert Nachmann
Nach 1933 war nicht wenigen Parteigenossen das gut gehende Geschäft ein Dorn im Auge. Da war es nicht überraschend, dass man versuchte, dem Geschäftsmann das Leben schwer zu machen. "Nur mit Spazierstock und Hut", um kein Aufsehen zu erregen, ging er zu Fuß über die Grenze nach Frankreich, als ihm ein Devisenverfahren angehängt wurde. Das erzählte er später den Enkeltöchtern. Seine Frau und Tochter Irene folgten einen Tag später – mit nicht mehr als einem Koffer - zu Freunden nach Basel. Dort trafen sie auch Sohn Max wieder, der zu diesem Zeitpunkt Jura in Grenoble studierte. Ein Daueraufenthalt in der Schweiz wurde der Familie aber nicht gewährt.
Schließlich fanden die Nachmanns ein neues Zuhause in Palästina, wo sich die Familie völlig umorientieren musste.
Sohn Max konnte sein in der Schweiz begonnenes Jurastudium nicht fortführen. Robert Nachmann gelang es nicht mehr, ein neues Geschäft zu gründen, denn seine finanziellen Mittel reichten dazu nicht aus. Auch die Unkenntnis der hebräischen Sprache erwies sich als allzu großes Hindernis.
Enkelin Ruth erinnert sich: => KLICK
Eine tiefe Freundschaft entwickelte sich auch zwischen Angelika Schindler und der Familie Kahn => KLICK
Eine tiefe Freundschaft entwickelte sich auch zwischen Angelika Schindler und der Familie Kahn => KLICK
Sohn
Karl hatte es nach Dallas in den USA verschlagen. „Wäre die
Anwaltsfamilie in Baden-Baden geblieben, wäre Karl Kahn wie sein Vater Jurist geworden und hätte ein gutbürgerliches leben geführt. So aber wurde er zu einem
Handelsvertreter für Schmuck. Montags bis freitags unternahm er
lange Autofahrten durch die unendlichen Weiten des mittleren Westens mit Koffern voller Schmuck. „Ich besuchte ihn einmal in USA und wir fuhren zwei
ganze Tage durch die Landschaft: Drei Ölpumpen, sonst war weit und
breit – nichts“. Angelika Schindler schüttelt den Kopf, wenn sie
daran denkt.
Karl Kahn kam oft nach Deutschland und
erzählt ihr eines Tages von Stolpersteinen, die er in Offenburg
gesehen hatte. Angelika Schindler hörte aufmerksam zu – und die
Idee des Arbeitskreises Stolpersteine war geboren. Die damalige
Pfarrerin der Stadtkirche, die Leiterin
des Stadtmuseums und die Stadtarchivarin waren schnell als Mitglieder
des Arbeitskreises gefunden, später stießen zwei Koleginnen von ARTE und die jetzige Pfarrerin der Stadtkirche dazu. „Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen und ergänzen uns gut“, sagt Angelika Schindler.
Erst kürzlich wurden wieder neue Stolpersteine verlegt, hier Fotos von der Aktion in der Winterhalter Straße 1,
in Gedenken an die am 22. Oktober 1944 nach Theresienstadt deportierte Gertrud Katz und ihre zwei Schwestern Maria Vierling und Martha Wingenroth. Ihrer Tochter, der späteren FDP-Stadträtin Leonore Mayer-Katz, gelang es im Mai 1945 auf abenteuerlichen Wegen, die Mutter und deren Schwestern zu befreien. Im Beisein von Enkelin Renate Buschert ...
... und Oberbürgermeisterin Margret Mergen
verlegte der Künstler Gunter Demnig => KLICK Anfang September die Steine.
142 Stolpersteine sind seit dem Start der Aktion 2007 bis heute in Baden-Baden verlegt worden, und zwar nicht ausschließlich für jüdische Verfolgte. Auch an 14 Opfer der Aktion "T4", einen Zeugen Jehovas und drei Widerstandskämpfer wird inzwischen mit diesen Symbolen aus Messing gedacht. Die Recherchen dafür sind nicht einfach, gesteht Angelika Schindler. Oft durchforstet sie dafür auch die Archive anderer Städte – alles ehrenamtlich. Alle Mitglieder des Arbeitskreises sind berufstätig, manchmal reicht die Zeit wirklich nur für das Nötigste, weswegen auch die Webseite des Arbeitskreises auf dem Stand von 2013 stehengeblieben ist. Man ist auf Spenden angewiesen, die Suche nach Geldgebern raubt zusätzlich viel Zeit.
Mithilfe eines Konzepts, das Angelika Schindler mit Katrin Zipse und Johannes Weiß initiierte, bietet beziehungsweise bot zwischenzeitlich auch SWR2 akustische Stolpersteine aus dem gesamten Sendegebiet an: Kurze Hörstücke geben den Verfolgten des nationalsozialistischen Staates eine Stimme. Durch Gespräche mit überlebenden Familienmitgeliedern, Briefe und Tagesbucheinträge werden Fragmente ihrer Biografien hörbar. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren wurden die ein- bis dreiminütigen akustischen Stolpersteine zu unterschiedlichen Tageszeiten ins laufende SWR2-Programm gestreut. Seit dem 8. Mai 2015 sind diese Hörstücke weiterhin als Multimediaarchiv abrufbar.
=> KLICK und KLICK
Im
vergangenen Jahr organisierte die unermüdliche Angelika Schindler zusammen mit Heike Kronenwett vom Stadtmuseum in Kooperation mit SWR2 und Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg eine
weitere Ausstellung im Stadtmuseum: „Weil eine Zahl keinen Namen
hat“. => KLICK
In dieser Ausstellung erinnerte eine Bildergalerie mit Porträts und Familienfotos aus glücklichen Tagen an die 131 Menschen, für die bis zu diesem Zeitpunkt Stolpersteine in der Stadt verlegt worden waren. Für so manchen fand sich kaum eine Spur, und der Bilderrahmen musste leer bleiben. Genauer beschäftigte sich die Ausstellung mit 18 Lebensgeschichten. Persönliche Gegenstände, die den Verfolgten am Herzen gelegen hatten oder eine zentrale Erfahrung ihres Lebens dokumentierten, ergänzten die Schau: Wie Karl Kahns Koffer zum Beispiel.
In dieser Ausstellung erinnerte eine Bildergalerie mit Porträts und Familienfotos aus glücklichen Tagen an die 131 Menschen, für die bis zu diesem Zeitpunkt Stolpersteine in der Stadt verlegt worden waren. Für so manchen fand sich kaum eine Spur, und der Bilderrahmen musste leer bleiben. Genauer beschäftigte sich die Ausstellung mit 18 Lebensgeschichten. Persönliche Gegenstände, die den Verfolgten am Herzen gelegen hatten oder eine zentrale Erfahrung ihres Lebens dokumentierten, ergänzten die Schau: Wie Karl Kahns Koffer zum Beispiel.
Auch
Robert Nachmann wurde
ein Teil der Ausstellung gewidmet. Er überlebte in
Palästina. Für seine Enkeltöchter fuhr er nach dem Krieg nach Deutschland und
kaufte Käthe Kruse Puppen – eine Kindheit ohne sie konnte sich der
ehemalige Inhaber eines Spielwarengeschäfts nicht vorstellen.
Angelika Schindler kann sich noch gut an die Recherche in diesem Fall
erinnern - es war die Zeit des Gazakriegs im sommer 2014. Sie telefonierte gerade mit einer Tochter Nachmanns in
Israel, um herauszufinden, welcher Gegenstand in der Ausstellung am
besten für ihn sprechen könnte, als ein Bombenalarm am anderen Ende
der Leitung das Telefonat jäh beendete. Angelika Schindler fasst
sich auch heute noch an den Hals, wenn sie dran denkt. „Kurz danach
aber erreichte mich schon eine Mail der Tochter, mit einem Foto
einer Käthe-Kruse-Puppe aus den 50er Jahren.“
Wichtig
ist Angelika Schindler in ihrem Kampf gegen das Vergessen auch immer
die Zusammenarbeit mit jungen Menschen. Für die letztjährige
Ausstellung arbeiteten die Kunstlehrer von drei Baden-Badener Schulen
mit ihren Klassen das Thema auf. Unter dem Motto „Stolpersteine –
was hat das mir zutun?“ konnten die Schüler das Thema frei in
Szene setzen. Herausgekommen sind Bilder, die Angelika Schindler tief
ergriffen haben => KLICK
Und
so freute sie sich diese Woche umso mehr zu erleben, was sich die
Schüler von sechs Schulen zum Thema Deportation nach Gurs ausgedacht
hatten.
Wie
zeitlos ihr Engagement ist, hat sie übrigens vor zwei Wochen auf
ganz andere Weise erlebt: Da habe sie im „Café international“
auf Drängen von Kolleginnen drei Nigerianern von ihrer Aktion
Stolpersteine erzählt und war bei den Flüchtlingen auf ehrliches
Interesse gestoßen. „Sie haben mir viele Fragen gestellt, denn sie
kannten sich mit dem Thema Holocaust aus und konnten gut
nachvollziehen, wie das ist, nur mit einem kleinen Bündel
Habseligkeiten die Heimat verlassen zu müssen.“ Die drei
Flüchtlinge bedrängten sie, ihnen einen Stolperstein in der Nähe
zu zeigen. Es wurde ein berührendes Erlebnis. „Wir alle haben viel
mitgenommen und haben voneinander gelernt: Wie denken sie, wie denken
wir.“ Angelika Schindlers Augen glänzen, wenn sie daran denkt: „Da
hat ein kleiner Stein ganz viel angestoßen“, sagt sie leise.
Zur Webseite des Arbeitskreises Stolpersteine geht es hier => KLICK
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