Flüchtlingssituation
wird auch
in
Baden-Baden dramatisch
Es
ist absolut dramatisch, was Bürgermeister Michael Geggus gestern
verkünden musste: Die Flüchtlingswelle nimmt bald ungeahnte Ausmaße
an: Ende 2017 werden in Baden-Baden und den Ortsteilen insgesamt rund 1700
Asylbewerber leben, und nach dem derzeitigen Stand ist die
Unterbringung für fast tausend von ihnen noch offen. Aus diesem
Grund hat man sich seitens der Verwaltung entschlossen, das Areal der
früheren französischen Funkstation im Heitzenacker wieder zu
nutzen. Dort steht bereits ein riesiger, lagerhafter Gebäudekomplex,
der in den 90iger Jahren bereits genutzt wurde. Bis zu 260 Flüchtlinge waren
damals dort unter – laut Arbeitskreis Asyl - teils erbärmlichen
Umständen untergebracht, nun sollen es 400 werden.
Bei
einer Ortsbesichtigung zeigte sich, dass die Stadt für die
Instandsetzung sicher einige Millionen Euro in die Hand nehmen muss:
Alles ist und war schon in den 90er Jahren marode.
Christian Kühnel
und Sibylle Loeben vom Arbeitskreis Asyl, die die Häuser bereits aus ihrer Flüchtlingsarbeit in den 90er Jahren kennen, berichteten mir diese Woche von den
damaligen Zuständen: Marode sanitäre Anlagen, kaputte Heizung, große
Schlafsäle und vor allem die Lage! Der lange, völlig unbeleuchtete
Weg hinaus ins Grüne nahe der B 500 hat schon damals bei den
Flüchtlingen große Ängste ausgelöst, die Ehrenamtlichen können
sich auch an Überfälle auf diesem Weg erinnern.
Die
Örtlichkeit liegt noch viel weiter außerhalb als die derzeitige
Unterkunft in der Westlichen Industriestraße. Der Weg ohne jede
Straßenbeleuchtung führt an den Gebäuden der Industriestraße
vorbei durch eine ehemalige Baumschule, über das Gelände einer
Gärtnerei und weiter regelrecht ins Nirgendwo. Irgendwann endet der
Weg, ein rostiges Gitter versperrt den Weg, und dann sieht man auch
schon den Gebäudekomplex und ahnt dessen Sanierungsbedarf.
Bürgermeister
Geggus ist sich der Problematik dieser Lage sehr wohl bewusst. Es
würden mehrere hauptamtliche Sozialarbeiter und Hausmeister
eingestellt, versprach er, ein Sicherheitsdienst wird rund um die Uhr
nach dem Rechten sehen, außerdem muss wohl über den Einsatz eines
Shuttlebusses nachgedacht werden, und für die Freizeitgestaltung
soll ein Sportbereich entstehen. Wie heute im Badischen Tagblatt nachzulesen ist, wird im Augenblick geprüft, ob sich die Gebäude sanieren lassen oder ob man für das Gelände Container anschafft. Einen entsprechenden
Grundsatzbeschluss wird die Verwaltung am 21. September dem
Hauptausschuss des Gemeinderats vorlegen, sagte Geggus.
Aber
er hat keine Wahl, steht mit dem Rücken an der Wand. Er bedauert, dass man sich angesichts der Zahlen nun vom Prinzip der dezentralen Unterbringung in kleinen und mittelgroßen Sammelunterkünften und in Wohnungen für die Anschlussunterbringung verabschieden muss. Wie dramatisch
sich die Notlage zuspitzen wird, war vor einem Jahr noch nicht
abzusehen. Zu Beginn 2014 lebten rund 200 Flüchtlinge in
Baden-Baden, 157 kamen im Laufe des letzten Jahres hinzu, aber so gut wie
niemand von ihnen wurde abgeschoben: Nur zwei so genannten
„Abgänge“ wurden verzeichnet, so dass Ende des letzten Jahres
also 355 Flüchtlinge in Unterkünften der Stadt lebten.
Dann
erhöhte sich die Zahl. In den ersten sieben Monaten diesen Jahres
kamen – bei neun Abschiebungen - 98 Personen hinzu. Derzeit leben
also 444 Asylbewerber in Baden-Baden. Hatte man eigentlich mit einer
Zugangsrate von 20 Personen pro Monat kalkuliert, hat das Land Anfang
Juli angekündigt, diese Rate auf mindestens 40 pro Monat zu erhöhen. Und damit stößt auch Baden-Baden an seine räumlichen Grenzen.
Im
Augenblick werden die Flüchtlinge in 20 Wohneinheiten über das
ganze Stadtgebiet von Baden-Baden untergebracht: Die größte Anzahl,
nämlich 150 Personen, ist in der westlichen Industriestraße
untergebracht, in diesem Jahr folgten weitere Wohnungen und
Unterkünfte für bisher insgesamt 160 Menschen (allein 70 von ihnen leben derzeit noch im alten
Vincentiushaus, das dankenswerterweise noch bis einschließlich März
2016 genutzt werden darf) .
Ab
Oktober können 60 Flüchtlinge in der Schussbachstraße untergebracht
werden, so dass man seitens der Stadt hofft, für das laufende Jahr
den Raumbedarf abzudecken. Aber schon ab 2016 tut sich eine
Unterversorgung auf, und diese Lücke wird schnell immer größer: Selbst wenn gegen den Widerstand der Anwohner die 90 Plätze in
Haueneberstein realisiert werden können und in der Aumattstraße 150
Plätze gebaut sind, wird es wohl einen erheblichen Fehlbestand geben,
und der wird dann monatlich größer: Nach jetzigem Stand fehlen -
falls sich die Flüchtlingssituation nicht noch weiter verschärft -
zum Jahresende 2017 rund tausend Unterbringungsplätze.
Vor
diesem Hintergrund sieht sich die Stadt gezwungen, die marode
ehemalige Unterkunft im Heitzenacker wiederzubeleben und mit 400
Menschen zu belegen.
Auch wird man in die mit 14 Quadratmetern ohnehin schon kleinen
Zimmer in den Unterkünften in der Industriestraße, die derzeit mit
jeweils zwei Personen belegt sind, ein drittes Bett stellen. Dann
stehen jedem Asylbewerber lediglich vier statt bisher sieben Quadratmeter zum Wohnen und Schlafen zur Verfügung. Eine qualvolle Enge, die - meines Erachtens - sicherlich zu Spannungen führen wird.
Vor
diesem Hintergrund appelliert die Stadt an alle Haus- und
Grundstücksbesitzer, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. „Die
Stadt zahlt einen guten Mietpreis, und die Wohnungen und Häuser
werden im Anschluss an die Unterbringung sehr gut renoviert
zurückgegeben“, betonte Michael Geggus, denn: „Unterkünfte in
Zelten und Turnhallen wie anderswo wollen wir nicht.“
Wer
der Stadt helfen will und Wohnraum anbieten möchte, wendet sich
bitte an
Marc Haase im Fachbereich Bildung und Soziales, Tel. 07221 –
93 1484
*
Anmerkung:
Angesichts
dieser neuen Zahlen bin ich wohl nicht alleine, wenn mich der Mut,
der Elan und die Zuversicht verlässt. 1700 Asylbewerber bis Ende
2017 – lässt sich bei einer so großen Zahl überhaupt noch
ehrenamtliche Flüchtlingshilfe leisten? All die Anstrengungen der
letzten Monate, die Flüchtlinge bei uns zu integrieren, erscheinen
vor solch gewaltigen Zahlen wie ein Tröpfchen auf den heißen Stein,
ja eigentlich wie purer Luxus. Ein Jahr lässt sich das Tempo und das
tolle, beispielhafte Angebot mit Schulungen, Sprachkursen,
Kontaktmöglichkeiten, Hilfen bei der Arbeitssuche sicherlich noch
durchhalten, wird es – hoffentlich! - noch genügend Freiwillige
geben. Aber was ist dann? Wir müssen uns auf Notzeiten einstellen,
zusammenrücken und uns gegenseitig Mut machen. Und wir sollten uns
immer vor Augen halten, wie gut es uns geht, gemessen an dem, was die
Menschen, die zu uns flüchten, durchgemacht
haben. Wir alle müssen uns der Situation stellen,
Grundsatzdiskussionen, Grabenkriege und Standortkämpfe begraben und
das Problem gemeinsam anpacken. Eine andere Wahl haben wir nicht. Die
Flüchtlinge werden kommen, und sie müssen menschenwürdig
untergebracht und respektvoll behandelt werden. Das ist ihr Recht und
unsere Pflicht.
*
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