Sonntag, 5. Juli 2015

Asyl-Geschichten (3)



Asyl in Baden-Baden:

"Vorfahrt achten" ist der
erste Schritt zur Integration

Neue Wege gehen die Ehrenamtlichen im alten Vincentiushaus in der Stadtmitte, um den dort untergebrachten Asylbewerbern zu helfen, mobiler zu werden. Busfahrkarten sind für die Flüchtlinge – ebenso wie für diejenigen in der Westlichen Industriestraße hinterm Bahnhof - ein Luxus. Der Wunsch nach einem bezahlbaren Fahrrad, um zu Sportstätten, kulturellen Veranstaltungen, Behörden und günstigen Einkaufsmöglichkeiten zu gelangen, wurde in den vergangenen Monaten häufig geäußert.



In der Westlichen Industriestraße soll eine Fahrradwerkstatt öffnen und von Ehrenamtlichen betrieben werden. Es stehen heute schon viele Räder vor den Eingängen, zahlreiche Bewohner benutzen die mehr oder weniger verkehrssicheren Gefährte längst bedenkenlos auf ihrem Weg in die Stadt.

Im Vincentiushaus, das erst dieses Jahr geöffnet wurde und Platz für 70 Bewohner bietet, wird das Thema grundsätzlicher angepackt. Hier wirbelt seit Monaten eine engagierte Freiwillige, die namentlich nicht genannt werden möchte, und die ich deswegen weiterhin „Frau Wirbelwind“ nennen muss (hier geht es zu einem Beitrag über eine andere Hilfsaktion dieser Frau =>KLICK). Wie ich es nun schon seit Monaten beobachten kann, widmet sich „Frau Wirbelwind“ dem Thema Asylbewerber mit unglaublicher Energie und Gründlichkeit. Neben einem anspruchsvollen Vollzeitjob unterstützt sie die Flüchtlinge im Vincentiushaus in allen möglichen Belangen und ist gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Ehrenamtlicher inzwischen eine wichtige und zuverlässige Anlaufstelle für die Flüchtlinge. Tatkräftig packt sie die Dinge an, die sie für sinnvoll hält. Jetzt also das Fahrradprojekt:

Sie suchte im Bekannten- und Freundeskreis und bei Spendern Fahrräder, begutachtete sie persönlich, nahm nur einigermaßen gebrauchsfähige Räder mit („Wir wollen am Vincentiushaus keine Schrotthalde haben“). 15 Exemplare bekam sie zusammen. Die brachte sie zu den hilfsbereiten Mitarbeitern der Radwerkstatt der Firma Decathlon, die die Drahtesel zu einem annehmbaren Preis, den sie aus eigener Tasche entrichtete, professionell flott und vor allem sicher macht. 




Als nächstes stand für die Asylbewerber, die gerne ein Rad haben möchten, eifriges Pauken auf der Tagesordnung, denn alles sollte seine Ordnung haben, und deshalb brauchen die Interessenten natürlich einen Fahrradführerschein. Manche der Erwachsenen hatten noch nie vorher auf einem Rad gesessen, mit denen musste erst einmal die Praxis geübt werden – und das ging nicht immer schmerzfrei ab, „Frau Wirbelwind“ musste so manches blutige Knie versorgen.



Dann endlich ging es an die Theorie – die wichtigsten Verkehrsregeln wurden gebüffelt. Kein Zuckerschlecken. "Drei sind frühzeitig und unauffällig weggeschlichen, als sie sahen, wie ernsthaft das zugeht, und dass weder Schwätzen noch Abschreiben möglich war", erinnert sich Frau Wirbelwind.  Immerhin haben zwölf der verbliebenen vierzehn bestanden. (Aber die, die durchgefallen sind, bekommen natürlich demnächst in einer zweiten Gruppe eine neue Chance!)

Donnerstag nun stand der praktische Teil der Fahrradprüfung auf dem Programm. Ganz professionell auf dem Verkehrsübungsplatz in Lichtental im Beisein von Polizeihauptkommissar Rolf Emig vom Referat Prävention bei der Polizeidirektion Offenburg. Er ist in Sachen Straßenverkehr ein „alter Hase“, war er doch vor der Strukturreform jahrelang Chef des Verkehrserziehungsdienstes der Dienststelle in Rastatt/Baden-Baden.



Es ist ihm anzumerken, wieviel Spaß ihm sein Beruf macht. Locker klärt er erst einmal ab, in welchen Sprachen er sich verständlich machen kann: Englisch, Französisch und Russisch kann er aus dem Handgelenk schütteln, mehr wird heute nicht gebraucht. 



Humorvoll versucht er den acht Aspiranten, die sich übrigens bei brütender Hitze in Begleitung von „Frau Wirbelwind“ eingefunden haben, die Prüfungsangst zu nehmen. Alles ist vorbereitet, jeder bekommt eine Nummer, Verkehrsregeln werden noch einmal kurz rekapituliert und allen die Wichtigkeit von Handzeichen eingeschärft. Endlich werden die Helme aufgesetzt (freundliche Leihgabe von Karl-Peter Müller von rent-a-sportsman), dann geht es - samt der unermüdlichen "Frau Wirbelwind" - auf den Parcours.



Zehn Minuten reichen PHK Emig, um sich ein Bild von den Fahrkünsten zu machen. Nichts entgeht ihm, immer wieder macht er sich Notizen.

Alltäglich ist das nicht für ihn, zum ersten Mal in seiner Laufbahn hat er es mit einer Klasse erwachsener Asylbewerber zu tun. Diese nehmen ihre Sache übrigens richtig ernst. Und am Ende strahlen und klatschen sie, als es für alle heißt: Bestanden!

Ein paar Ermahnungen noch, dann werden die ersehnten Fahrradführerscheine ausgehändigt. Wie es nun weitergeht? Wer einen solchen Führerschein besitzt, kann sich nun jederzeit im Vincentiushaus für 10 Euro im Monat ein Rad ausleihen.

Frau Wirbelwind“ macht zum Abschluss noch deutlich, dass es ihr bei der Aktion natürlich um viel mehr ging als um Fahrrad und Verkehrsregeln: „Genauso wichtig war mir in diesem Kontext, dass die Flüchtlinge wirklich etwas lernen und zum ersten Mal in Deutschland einen kompletten Prüfungsprozess durchlaufen mussten. Schule, Training, theoretische Prüfung, praktische Prüfung. Viele haben das noch nie gemacht. Die meisten kennen die Verkehrsregeln überhaupt nicht, bilden sich aber ein, alles zu wissen.“ 

Ihr ist auch jegliche rosarote Brille fremd. Ehrlich berichtet sie: „Der Prozess war gnadenlos, und die Hälfte, die sich angemeldet hat, ist während der Vorbereitung wegen mangelnder Disziplin und Lernbereitschaft rausgeflogen.“ Alle, die nun dabei waren, hätten jedoch Lerneifer gezeigt, sie kamen pünktlich um 12 Uhr zum Unterricht. „Die sind möglicherweise kompatibel mit dem europäischem Way of Life“ urteilt sie ganz pragmatisch, und darum ging es ihr neben der Verkehrssicherheit in allererster Linie. 


Ein Job für Kassim


Und noch etwas muss laut Frau Wirbelwind unbedingt in diesen Beitrag. Sie schreibt mir:

"Besonders eindrucksvoll war es zu beobachten, dass ein Asylbewerber, Mouniro Kassim aus Togo, außergewöhnliches technisches Geschick, Kompetenz und Gewissenhaftigkeit demonstriert hat. Ihm wurde ein Werkzeugkoffer für Einstellungen und kleine Reparaturen übergeben, und er unterstützt den Fuhrpark vor Ort. Wir hoffen, dass die Fahrradwerkstatt in der Westlichen Industriestrasse bald voll einsatzfähig ist und von uns genutzt werden kann. Das Vincentiushaus ist ein kleiner Satellit und wird mit Sicherheit keine großen Gerätschaften anschaffen."



Mouniro Kassim ist nun also die technische Säule des Fahrradpools. Er hat Entsetzliches erlebt, ist jedoch immer guter Dinge und will absolut unbedingt in Deutschland Fuß fassen. Deshalb wird für ihn dringend ein Job oder ein Praktikum gesucht, in dem er sein technisches Geschick beweisen kann. Leider hapert es noch mit den Deutsch-Kenntnissen.



Ein Rad für Midia

Auf der Strecke allerdings blieb Midia...

Hier ihre Geschichte, die "Frau Wirbelwind" schildert: Midia ist syrische Kurdin, hat Schreckliches durchgemacht und kann vor Sorge um ihre behinderten Söhne (blind, taub) und ihre 16 jährige Tochter nicht schlafen. Sie ist sehr oft „komplett fertig“, spricht so gut wie kein Wort Deutsch und fast kein Englisch.




Ausgerechnet sie war in jedem theoretischen Fahrradtraining dabei, hat die Bilder gelernt und mit ihrem Handy ins Arabische übersetzt und einfach gelernt. Sie hatte in der Prüfung 48 von 52 Punkten und war damit Drittbeste. Sie konnte nicht Radfahren, und mit der gleichen Verbissenheit lernt sie das jetzt. ABER: Alle Räder, die bislang im Vincentiushaus abgegeben wurden, sind zu groß und so stürzt sie immer wieder sehr tief.




Knie und Fußzeh sind schon kaputt, trotzdem würde sie das Radfahren so gerne erlernen. Sie ist allerdings nur 1,60 Meter groß, und braucht deshalb – ebenso wie zwei weitere Frauen - ein kleines 26-Zoll-Damenrad.

„Frau Wirbelwind“ macht aber gleich klar: „Ich nehme nur funktionsfähige Räder, bei denen sich der Reparaturaufwand in Grenzen hält.“

Da sie, wie gesagt, nicht mit Namen im Internet erscheinen möchte, können Sie sich gern per Mail bei mir melden, ich werde Ihre Mail mit Ihren Kontaktdaten weiterleiten, und "Frau Wirbelwind" setzt sich dann umgehend mit Ihnen in Verbindung.

Bitte auf keinen Fall die Räder einfach eigenmächtig vor der Unterkunft abstellen!


Meine Mail-Adresse: hampprita@gmx.de


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