Ich kann mir doch nicht
jeden Tag ein Ohr abschneiden
Die Ausstellung "nach dem frühen Tod" in der Kunsthalle Baden-Baden wirkt wie von leichter Hand arrangiert, aber je öfter man durchgeht, umso mehr Details werden sichtbar und umso deutlicher wird, dass sich hier jemand sehr viele Gedanken um Inhalt, Zusammenspiel und Präsentation gemacht hat.
Wie schwierig es für Hendrik Bündge, den Kurator der Ausstellung, war, an die einzelnen Bilder zu kommen, habe ich in meinem gestrigen Beitrag bereits geschildert => KLICK .
Mitten
im Riesentrubel der letztjährigen quirligen Landesausstellung „Room
Service“ (lesen Sie dazu meinen damaligen Beitrag =>KLICK ) brütete
er bereits über Konzept und Ausschreibung für dieses Jahr, musste sich mit möglichen
Leihgebern der benötigten Bilder ebenso in Verbindung setzen, wie er
sich stimmige Beigaben ausdenken musste. Und
damit sind nicht die Vitrinen mit all dem witzigen Kitsch gemeint,
mit denen er veranschaulichen wollte, auf welch absurde Art
heutzutage weltberühmten Künstlern gehuldigt wird. (Lesen Sie dazu
meinen gestrigen Beitrag => KLICK)
Daneben waren auch handwerkliche Konzepte zu erstellen: Stellwände
wurden herbeigeschafft, die Räumlichkeiten wurden für einzelne
Epochen beziehungsweise Aussagen mit entsprechenden neuen, von Raum
zu Raum unterschiedlichen Wandfarben versehen. Und lange, bevor die ersten Werke
eintrudelten musste wenigstens theoretisch feststehen, wo und wie sie platziert werden sollten.
Dann
endlich wurden Ende Februar/Anfang März die ersten Bilder in der
Kunsthalle herbeigeschafft, begleitet von Kurieren, die alles genauesten
begutachteten. Sie prüften den Zustand der Kisten, in denen die
Werke angeliefert wurden, sie prüften den Zustand der Bilder, nachdem
sie aus den Kisten befreit waren, sie waren bei der Hängung dabei,
prüften Lichteinfall und Lichtstärke und überließen nichts dem
Zufall.
Eineinhalb
Wochen dauerte die Aufbauarbeit, für Bündge eine spannende Zeit.
„Die Hängung ist das Schönste“, findet er. „Wenn man merkt,
wie es plötzlich funktioniert, wie die Wandfarbe passt...“ Da
funkeln plötzlich seine Augen, und er verliert für einen winzigen
Moment seine Distanziertheit. Stolz erfülle ihn, wenn er nun durch
die Ausstellung gehe und feststelle, dass alles so geworden ist, wie er es sich
vorgestellt habe, verrät er. Er freue sich, wenn die Räume wirken, wenn die
Durchblicke stimmen.
Im großen Saal beispielsweise hängen neben dem bereits erwähnten Werk "Rosen und Sonnenblumen" von Vincent van Gogh, über das ich gestern schon schrieb, ein Werk von Basquiat und dieses von Jackson Pollock ...
... und diese Künstler haben nicht nur den frühen Tod gemeinsam, sondern auch, dass ihr Leben verfilmt wurde. Wie übrigens auch das von Frida Kahlo, von der es leider kein Original-Werk zu sehen gibt, dafür hat Bündge aber eine Vitrine voller amüsanter Kitsch-Gegenstände zusammengetragen: Vom echten Frida-Kahlo-Tequila ...
... bis hin zu einer Ansammlung von Künstler-Bärten samt Frida-Kahlo-Damenbart
Viel Zeit, sich von der Anstrengung auszuruhen, bleibt Bündge nicht, denn nach der Eröffnung ist
vor der nächsten Ausstellung.
So zum Beispiel auch über Martin Kippenberger, bis zu seinem Tod das versoffene "Enfant terrible" der Kunstwelt ...
... der hier unter anderem mit einem Selbstportrait vertreten ist und - in Anspielung an das Schicksal seines berühmten Maler-Kollegen van Gogh gesagt haben soll: "Ich kann mir ja nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden"...
Nicht nur Bündge selbst übernimmt Führungen durch die Ausstellung, auch die
anderen im Kunsthallen-Teams springen gerne ein, und alle
betonen, dass ihr gläsernes Arbeitszimmer neben dem Café für jeden Besucher offensteht. „Wir beantworten gerne Fragen“,
lautet das Credo des jungen Teams.
Davon
konnte ich mir gestern selbst ein Bild machen, als ich mit drei
Asylbewerbern aus Nigeria auftauchte, die beim Willkommensfest
letzten Samstag meine
Einladung zu einem Besuch in der Kunsthalle annahmen. Für die Leute
in der Kunsthalle war es keine Frage, meinen Gästen,
die erst seit zwei Wochen in Baden-Baden sind und daher noch wenig
Deutsch können, eine englischsprachige Führung anzubieten. Nadia
Heinsohn schaffte es mit ihrer sehr eindrucksvollen Art, uns nicht einfach
nur eine Führung durch die Ausstellung zu geben, sondern einen
kurzweiligen, lebendigen Überblick über den Stand der zeitgenössischen
Kunst in der westlichen Welt zu geben ... und auch schwierige Exponate anschaulich zu erklären...
Da
ich Flüchtlinge nicht erkennbar
ablichten will, ist dieses Foto hier nur als Sinnbild gedacht. Es war
sehr bewegend zu sehen, wie interessiert unsere Gäste den
Ausführungen lauschten und wie dankbar sie über das Angebot waren,
ihren Wissensdurst zu stillen.
Für mich war dies bereits mein dritter Rundgang
durch die Ausstellung, und ich kann sagen, dass es kein bisschen langweilig wird, sondern immer wieder etwas Neues zu
entdecken gibt.
Übrigens: es gibt sogar Kunst zum Mitnehmen! Nun, der van Gogh muss
natürlich hängen bleiben, aber dieser Stapel von Postern darf bis
zum Ende der Ausstellung gerne abnehmen. Fassen Sie sich also bei Ihrem nächsten Besuch ein Herz und
nehmen sich ein Plakat mit nach Hause!
Der Künstler...
... hatte es so gewollt:
*
Lesen
Sie morgen in meiner Sonntagsgeschichte: Wie jemand Kurator wird, für
den "Kunst" in der Schulzeit eher ein Fremdwort war, und wie es um den Wert von Frauenarbeit in der Kunstwelt bestellt ist ...
Öffnungszeiten und Eintrittspreise der Kunsthalle finden Sie hier => KLICK