Freitag, 27. Oktober 2023

Kunsthalle: Sarkis-Ausstellung

 

Sieben Tage, sieben Nächte

(K)ein Buch mit sieben Siegeln


Die staatliche Kunsthalle Baden-Baden ist neuerdings immer wieder ein Garant für Herausforderungen an den laienhaften Besucher. So manches Mal bin ich schon ratlos gewesen, muss ich gestehen. Bestimmt hohe Kunst, aber wohl doch eher etwas für Kenner. Auch mit ihrer neuen Ausstellung, die heute (27. Oktober 2023) um 19 Uhr bei freiem Eintritt eröffnet wird, habe ich mich schwer getan. Konzeptkunst ist es diesmal. „Sarkis. 7 Tage, 7 Nächte“. So der Titel.

Man muss sich darauf einlassen. Kunst ist eben nicht nur etwas, das an der Wand hängt, sondern sie nimmt – zumindest in diesem Fall – den ganzen Raum ein. Der Künstler inszeniert seine Ausstellungen, versteht sie einerseits als Kritik an der Kunstgeschichte, die die Kunst als eingefrorene Momente hinstellt, andererseits will er zum Beispiel „die Farbe aus den Zwängen der Leinwand befreien“. So versuchen es die Verantwortlichen der Kunsthalle Defne Ayas, Çağla Ilk und Misal Adnan Yildiz, den Vertretern der Presse beim ersten Erkundungs-Rundgang zu erklären.

Aber fangen wir ganz von vorne an, nämlich beim Künstler selbst. Sarkis. International anerkannter Künstler von Weltruf. 

 



 

Zweieinhalb Jahre hat die Kunsthalle Baden-Baden intensiv mit ihm zusammengearbeitet, um die derzeitige Ausstellung zu konzipieren, und seit zweieinhalb Wochen ist der 84jährige Künstler Tag und Nacht vor Ort, um den Aufbau der Ausstellung zu verfolgen. Jeder der Säle und Räume der Kunsthalle hat sich seinem Konzept angepasst und etwas zu sagen.

Der große Hauptsaal ist auf diese Weise zum Wasseratelier geworden, soll als aktivierte Skulptur genutzt werden. Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag dürfen hier Besucher zwischen sieben und 70 Jahren aktiv werden, angeleitet von Kunstvermittlern können sie in dieser Wasserwerkstatt erleben, wie die Pigmente der einzelnen Farben in unterschiedlicher Geschwindigkeit mit Wasser reagieren. Blau sinkt schneller als Rot oder Gelb, zum Beispiel. Wer Lust hat, das auszuprobieren, kann morgen, Samstag, 28. Oktober, um 14 Uhr spontan und unangemeldet vorbeikommen und den Pinsel schwingen. Danach ist eine Anmeldung erforderlich. Das ist Kunst zum Erleben, hier wird ein Bogen zwischen Kunst und Stadt gespannt, denn was wäre Baden-Baden ohne Wasser aus den Thermalquellen oder aus der Oos. 

 


Ab dem zweiten Raum erschließt sich die Bedeutung der Ausstellung dann allerdings nicht mehr intuitiv: Wenn fröhlichbunte Kinderkleider über einem lackierten „Altar“ von der Decke baumeln, muss man wissen, dass diese Trachten akribisch jedes Jahrzehnt nach 1900 darstellen und Fröhlichkeit gegen die graue Tristesse der Städte stehen soll. Ich zitiere den Pressetext:

Mit einer konzeptionellen Choreografie evoziert diese Arbeit das Gedenken an Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt, wie sie ihre Körper in verschiedenen Zeitepochen gekleidet haben, und wie wir uns eine Zukunft für unsere Existenz vorstellen. In einer Stadt wie Baden-Baden, mit einem bedeutenden älteren Bevölkerungsanteil, manifestiert sich diese Geste als Rückbesinnung auf unsere Kindheit, durch Neonfarben und futuristische Formen der Abstraktion, die vor Intensität leuchten.




Man muss wissen, welche Bedeutung der Schlafsack hat, der in fast allen Räumen eine Rolle spielt und ein Symbol für das Aufwachen und Weitermachen im Leben darstellen soll. 

 


 

Oder was es im dritten Raum mit der Truhe voller zerstörter Installationen und Musikbänder auf sich hat. „Treasure of sorrows“, oder „Leidschatz“ ist das Thema.

 



Raum vier – Glasmalerei als verfremdeter Hinweis auf Matthias Grünewalds Isenheimer Altar.

 


 

Oder die 12 „Kriegsschätze“, Objekte, die mit einem ganzen Wirrwarr von Tonbändern behängt sind, auf denen einstmals Stravinskys „Sacre de Printemps“ zu hören waren …

 



Jetzt zitiere ich die Erklärung aus dem kleinen Begleitheftchen, das man sich auf jeden Fall für den Rundgang mitnehmen sollte. „Die Objekte und Tonbänder wurden auf zwölf kreisförmigeStänder gestellt, die auf runde Sockel langsam, wie in einem Tanz, rotieren. Eine von Sarkis gefundene Puppe hält den in Teig geformten Buchstaben K, Anfangsbuchstabe von Kriegsschatz, aufrecht. ...Direkt daneben sehen wir ein Vulkangestein und eine kristalline Nachbildung eines Schülers von Sarkis.

 


 

Ähnliche Erklärhilfen braucht man für die weiteren Räume und Installationen.

Beispiel Werkzeugkasten für den „Kriegsschatz“: Jedes Werkzeug wurde von Hand geschnitzt, individuell angefertigt und wurde dafür gemacht, die einzelnen Buchstaben des Wortes „Kriegsschatz“ zu formen. Für jeden Buchstaben wurde ein anderes Holz verwendet, dessen Anfangsbuchstaben das Wort Kriegsschatz ergeben. „Die Holzarten spielen auch auf die koloniale Ära der Ressourcenausbeutung an. Diese Instrumente können genutzt werden, um imperiale Geschichten aufzubrechen und das Lexikon von Krieg, Plünderung und deren Wurzeln zu erweitern“... Das Wort selbst hat der Künstler übrigens nach einem Unfall mit seinem eigenen Blut geschrieben.



Und so weiter.

Ich zitiere noch einmal den Pressetext, in dem Çağla Ilk und Misal Adnan Yildu sagen:

Wir lernen aus Sarkis' künstlerischer Praxis in Bezug auf die menschliche Existenz und unsere ontologischen Fragen. Die Aktualität dieser Ausstellung knüpft nicht nur an eine neue Dringlichkeit der Kunstproduktion angesichts der aktuellen Kriege in unserer Welt an, sondern bekräftigt auch die Rolle von Praxen des Gedenkens im Kontext der aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Speziell in Deutschland, aber auch innerhalb eines universellen diskursiven Rahmens, unterstützen wir die vertiefte Auseinandersetzung mit den generationsbedingten psychologischen und sozialen Traumata der Opfer von Krieg, staatlicher Gewalt und Völkermord, einschließlich des armenischen Volkes... Diese Thematisierung ist ein wichtiger Schritt in Richtung Anerkennung, Empathie und Andenken. Kunst allein kann unsere großen Probleme von der Klimakrise und dem ökologischen Kollaps bis hin zur militaristischen Gentrifizierung und Kriegspolitik nicht lösen, aber sie verändert unsere Perspektive darauf, wie wir auf sie reagieren.“

Mein Vorschlag: Wer ungeduldig ist und vor den einzelnen Werken nicht alle Texte mühsam studieren möchte, dem sei eine Führung empfohlen: Jeden Sonntag um 14 Uhr. Interessant ist auch der Freitagslunch um 13 Uhr, bei dem jeweils ein Kunstwerk herausgegriffen und erklärt wird.

Denn ganz ehrlich: Ohne eine leitende Hand ist man mit der Konzeptkunst und all ihren vielschichtigen und vielsagenden Bedeutungen vermutlich überfordert.

Die Ausstellung ist bis 4. Februar 2024 zu sehen.

Am morgigen Samstag, 28. Oktober, gibt es um 15 Uhr ein Künstlergespräch mit Sarkis - in französischer Sprache mit Simultanübersetzung.

Zum Programm => https://kunsthalle-baden-baden.de/program/sarkis-7-tage-7-naechte-programm/