Sonntag, 10. Januar 2016

Christian und Nadja Hoff


Menschen in Baden-Baden, heute:
Nadja und Christian Hoff


Heute ist der erste Tag, an dem mal niemand weint“, sagt Christian Hoff und reibt sich Anspannung und Müdigkeit aus dem Gesicht. Anstrengende Tage und Wochen liegen hinter dem Leiter der neuen Wohngruppe für „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ am Ende der Stadt. Anfang Dezember war es, da schauten er und seine Frau Nadja sich das Haus am Ortsrand von Müllenbach zusammen mit dem Jugendamt unverbindlich an, nur zwei Tage später trudelte die Email ein: 13 unbegleitete junge Flüchtlinge aus dem Auffanglager in München kommen nach Baden-Baden. Wann? In einer Woche. „Macht ihr das?“




Was für eine Frage für den Leiter der mobilen pädagogischen Dienste, Mopädd. Wenn einer Spezialist für derartige Fälle ist, dann Christian Hoff: Seit 18 Jahren engagiert sich der 48jährige Baden-Badener für Kinder und Jugendliche in Not. Er und sein Team – bis zu 80 haupt- und teilberufliche Pädagogen und Therapeuten beschäftigt er inzwischen in seiner Firma – gehen dorthin, wo es brennt: In die Familien, wenn gemeinsame Beratung für Vater, Mutter und Kind notwendig ist. Oder ganz persönlich nur zum Kind in der Familie, wenn ihm auf diese Weise geholfen werden kann. Sie nehmen Kinder und Jugendliche aber auch aus misslichen Verhältnissen heraus und geben ihnen in Wohngruppen und Gemeinschaften das, was sie brauchen: Liebe, Geborgenheit und Anleitung zum Flüggewerden. Diese Hilfe reicht von Zielvereinbarungen, Erarbeiten einer Tagesstruktur, über Alltagshilfe, Unterstützung bei den Ämtern bis hin zu ganz normalen Erziehungsfragen. Jugendliche ab 16 Jahren, die nicht mehr zuhause wohnen können, werden auch stundenweise bis zur Verselbständigung betreut, sei es wenn es gilt, den Umgang mit Geld zu üben, sei es beim Bewerben auf eine Arbeits- oder Ausbildungsstelle oder ganz profan in Fragen einer gesunden Ernährung.

Auch an den Schulen in Baden-Baden und im Landkreis Rastatt ist das Mopädd-Team in der Nachmittagsbetreuung aktiv und erreicht hier an die tausend Schüler täglich.

Das Jugendamt kennt und schätzt die Arbeit der Pädagogen seit langem und arbeitet eng mit ihnen zusammen. In letzter Zeit eben auch, wenn minderjährige Flüchtlinge mutterseelenallein in Baden-Baden eintreffen und aufgefangen werden müssen. Denn bis sie 18 sind, unterliegen sie dem Jugendschutz, viel Jüngere kommen gar unter Vormundschaft des Jugendamts.

Ein Glücksfall ist, dass Christian Hoff im Umgang mit jungen Flüchtlingen beileibe kein Neuland betritt. Er kennt sich mit dem Thema aus, seit 25 Jahren hat er mit ihnen zu tun, schon damals kamen sie aus der Region Iran/Irak, wenn auch nicht in den Mengen wie heutzutage.

Auch in jüngster Zeit waren bereits einige Neuzugänge in Jugendwohngemeinschaften in Baden-Baden untergebracht worden, die Wohnkapazitäten waren erschöpft, und nun – wo gleich der Zuzug 13 Schützlingen auf einen Schlag angekündigt wurde - musste schnell ein neues Heim her. Insofern war es fast schon Fügung,
dass der Stadt just in dieser Situation das Haus in Müllenbach angeboten wurde. Ein Jahr schon stand es leer, berichtet deren Besitzer; auch er ist sehr glücklich, dass sich nun alles so gut entwickelt hat.




Es ist ein schönes, ehrwürdiges, altes Haus, Baujahr 1823, riesig, mit mehreren großen Gemeinschaftsräumen (sogar eine Tischtennisplatte und ein Kicker haben Platz und werden gern genutzt) und mit einer großen Gastroküche ausgestattet, weil es vor Jahren einmal als Wirtshaus fungierte.




Wenn man das Haus betritt, fällt sofort die freundliche, helle Atmosphäre auf. Und die Stille. Wohnen hier wirklich 13 Halbwüchsige? Am großen Tisch im Aufenthaltsraum sitzt Christian Hoff mit einigen der Jugendlichen. Ein Schachbrett ist zwischen ihm und einem seiner Schützlinge aufgebaut, daneben würfeln sich andere Jugendliche durch ein Mensch-Ärgere-Dich-Spiel und lernen ganz nebenbei, wie die Farben auf Deutsch heißen.




Wissbegierig sind sie, blitzgescheit. Sie saugen die neue Sprache nur so in sich auf, und werden von ihr auf Schritt und Tritt verfolgt. Die Kommunikation läuft bewusst auf deutsch, nur wenn es mal gar nicht geht, fällt ein englischer Brocken. Am Weihnachtsbaum hängt ein Sprachlernschild, am Stuhl, am Büro, selbst auf der Treppe liegt eines.




Neugierig und freundlich schauen sie auf, als der Besuch erscheint, ihr Lächeln ist freundlich und offen, den Schmerz, der hinter ihnen liegt und der in ihnen wühlt, spürt man auf den ersten Blick nicht. Nicht mehr? Oder besser: in diesem einen Augenblick nicht. Die Stimmungen schwanken, auch der Hausbesitzer, den ich später bei einem nachträgliche Fototermin treffe, kann ein Lied davon singen. In einem Augenblick sind es noch fast ganz normale Kinder, die sich freuen, wenn sie die Tiere, die er am Haus hält, streicheln dürfen. „Jeder von ihnen bedankt sich, sogar beim Pferd; so etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt der Besitzer und schmunzelt. Aber diese guten Stimmungen seien trügerisch, schnell kann es kippen, und im nächsten Augenblick weinen die Kinder bitterlich, und auch er ist oft hilflos, wenn sie ihm zum Beispiel schluchzend erzählen, dass die Taliban Mutter und Vater im Elternhaus verbrannt haben und sie dabei zuschauen mussten. „Der Umgang mit den Tieren bringt sie auf andere Gedanken und tut ihnen bestimmt gut“, hofft der Besitzer.

Nadja und Christian Hoff sind ihm daher sehr dankbar - sowohl für seine Bereitschaft, den Kindern den Umgang mit den Tieren zu ermöglichen als auch für die Bereitstellung des Hauses.




Sie können sich noch gut an den Tag erinnern, als der Bus vorfuhr und die Jungs ausstiegen und sich verwundert umsahen. “Wo sind wir hier?“ wollten sie wissen. Die 13 Kinder hatten ja kein Mitspracherecht bei ihrer Verteilung, man hatte sie im Auffangcamp in München in einen Bus gesetzt, durch die Lande gefahren und irgendwann irgendwo aufgefordert, auszusteigen.

Manche von ihnen hatten nichts dabei“, berichtet Christian Hoff, „keine Tasche, keinen Rucksack, keine Socken.“ Sie hatten bis dato nicht mal ihre Kleidung waschen können, weil sie keine Sachen zum Wechseln besaßen. Einer von ihnen hatte noch die Schuhe an, mit denen er in Afghanistan losgelaufen war. „Er ist immer nur nachts gelaufen, drei Monate lang, durch die ganze Türkei.“

Nadja Hoff weiß noch, wie ihr erster Eindruck war: „Die haben schon ein bisschen streng gerochen“, sagt sie augenzwinkernd, aber das sei ja auch verständlich, weil sie unterwegs keine Gelegenheit zur Körperpflege gehabt hätten. Außerdem seien viele von ihnen krank gewesen. „Mit mehr als der Hälfte mussten wir sofort ins Krankenhaus, einer hatte zwei Schussverletzungen, andere hohes Fieber und eine schwere Grippe und fast alle Zahnprobleme...“

Die medizinische Versorgung ist etwas problematisch, denn die Jugendlichen haben die Grenze der Schmerzen längst erreicht, ein Mehr – zum Beispiel mit nötigen Impfungen - lassen sie erst einmal nicht zu, oder wenn, dann nur nach geduldigem Erklären und Zureden. „Es ist einfach genug, sie wollen nicht noch mehr Schmerzen zugefügt bekommen, da ist jetzt schon ein Nadelstich zu viel.“

Eine schwierige Situation, und nicht die einzige. Denn als die Jungs eintrudelten, war das Haus noch gar nicht richtig bezugsfertig. Nadja Hoff: „Wir hatten nur zehn Tage Vorlauf. Ja, wo kriegt man denn so schnell Möbel her!“ Aber in Baden-Baden ist die Helferwelt noch in Ordnung: Das „Dänische Bettenlager“ in der Cité erwies sich als Segen und machte das Unmögliche möglich: „Wir waren am Freitag bei ihnen und haben unsere Situation geschildert - und am Montag hatten wir 13 Betten, 13 Lattenroste, 13 Matratzen, 13 Schränke...“ Doch damit war es nicht getan, ein Mitarbeiter war in der Folgezeit eine ganze Woche lang acht Stunden am Tag damit beschäftigt, die Möbel zusammenzubauen. Die jungen Schützlinge übernachteten zunächst in der Jugendherberge – „die konnte ja erst einziehen, als wenigstens die Betten standen“ - packten währenddessen aber auch selber mit an im Haus.

Per Zeitungsanzeige kam das Team zu einer riesigen, gut erhaltenen Couch, die der Besitzer, als er hörte, um was es ging, sogar eigenhändig vorbeibrachte.

Nachdem die Grundversorgung inklusive erstem Einkleiden von der Unterwäsche bis zu den Schuhen erledigt war, ging es an Alltäglichkeiten. Christian Hoff erklärt an einem kleinen Beispiel, welche Schwierigkeiten es zu überwinden gilt: „Ich kann denen nicht einfach sagen – kauft euch eine Monatskarte und steigt am Brahmsplatz aus – sie kennen keinen Bus, geschweige denn das Transportsystem und dann - wer weiß denn, was Monatskarte auf Dari heißt?“



Den Jugendlichen, die in der Kriegsheimat noch Familie haben, war natürlich der Kontakt nach Hause am wichtigsten. Aber oh weh, kein Handyempfang in Müllenbach, und die Telefonleitung ließ auch auf sich warten. Hektische Tage waren das, so Hoff: „Ich habe zwei Tage vor Weihnachten, als der versprochene Techniker einfach nicht kam, noch nachts Mails zum Provider losgeschickt, und tatsächlich erbarmte sich jemand und fühlte sich zuständig.“ Ein Segen, denn der Vorschlag, stattdessen einen Brief an die Mutter zu schicken, lief ins Leere: „Sie kann doch nicht lesen“, gestand der betreffende Junge. Ja, schlimmer noch, die Mutter habe ihn losgeschickt in die Fremde, weil sie, so sagte sie ihm, bald sterben würde. Da steht wenigstens der telefonische Kontakt über allem.

Es sind doch Kinder“, bricht es aus Nadja Hoff heraus, und ihr Mann fügt leise hinzu: „Die wollen eigentlich nur eines: Heim zu ihrer Mama.“ Sie könnten oft gar nicht ermessen, was in der Welt und mit ihnen selbst geschehe. Wenn es noch Eltern in der Ferne gibt, trösten diese ihre Kinder per Telefon und reden ihnen gut zu, in Deutschland zu bleiben, wo sie es bestimmt gut haben.

Aber es gibt auch einen Jungen, ausgerechnet der jüngste ist es, der seine Mama nicht telefonisch erreichen kann, seit Tagen schon ist der Kontakt abgebrochen. Oder ein anderer, der beim Aufrufen von Facebook plötzlich das Foto seines Cousins sah - mit durchgeschnittener Kehle... Da wird dann psychologische Hilfe gebraucht, und zum Glück ist sie da, eine Psychologin, die vieles auffängt. Rund um die Uhr ist jemand bei den Kindern und spendet Trost und hilft.

Wenn ein Zusammenbruch kommt, ist jeder gefordert, auch Hoff selbst. „Dann kann man die Kinder einfach nur halten und auf sie einreden, auch wenn es nur auf Deutsch ist - und hoffen, dass sie den Sinn verstehen“, berichtet er. Was sagt man Kindern in solch einer Situation? „Alles wird gut. Du kannst mir vertrauen. Du bist in Sicherheit.“ Untereinander reden die jungen Flüchtlingen nicht über ihre Erlebnisse, hat er bemerkt. „Ich glaube, sie wollen sich nicht auch noch gegenseitig belasten.“ 
 



Um die jungen Menschen auf andere Gedanken zu bringen, hat man während der Weihnachtsferien viel gemeinsam unternommen. Absolut begeistert wurde die Wanderung zum Wildgehege aufgenommen, der Anblick von zotteligen Schottlandrindern, von Wildschweinen und Rehen sorgte für kleine Glücksmomente. Und schon bald folgte eine weitere Entdeckung: „Sie gehen schrecklich gerne schwimmen“, haben die Hoffs festgestellt. Der absolute Höhepunkt war für die Dreizehn über die Feiertage aber der Besuch der Eisarena. „Da wurden sie wieder zu dem, was sie eigentlich sind: Kinder!“

Christian und Nadja Hoff sehen sich an und lächeln verständnisvoll:
Das sollte man auch nie vergessen: Es sind Kinder! Mit schrecklichen Erinnerungen und mitten in der Pubertät. Aber in erster Linie Kinder.“ Und jeder Tag mit ihnen hinterlässt auch für die beiden erfahrenen Fachleute einen tiefen Eindruck. „Man muss schon sehr professionell sein, damit man das bei Feierabend nicht mit nach Hause nimmt“, gestehen sie.

Feierabend? Den gab es in den vergangenen fünf Wochen nicht! Selbst das eigene Weihnachtsfest fiel aus; das Hirschgulasch ruht noch in der Tiefkühltruhe, die Spätzle wurden gar nicht erst gekauft und gegenseitige Geschenke gab es leider auch nicht.
Dass er seiner Nadja aus Zeitgründen nichts hat kaufen können, hat Christian Hoff bis heute nicht so ganz verwunden. Seine Frau sieht es gelassen: „Aber wir haben doch ein Geschenk bekommen: die Kinder!“, sagt sie, lacht und nimmt ihn bei der Hand. Ganz fest.




Wenn Sie helfen wollen:
Fahrräder waren daher ein Traum für die Gruppe! Sie dürsten danach, die Umgebung zu erkunden, und könnten auf dem Fahrrad außerdem besser als Verkehrsteilnehmer wahrgenommen werden, so Hoff. Ein Aufruf über Facebook und einen Mailverteiler hat bereits ausreichend Fahrräder avisiert, am Montag, wenn die Schule beginnt und die Kinder vormittags aus dem Haus sind, wird Hoff die Gelegenheit wahrnehmen, die Räder einzusammeln. Doch das zieht schon den nächste Wunsch nach sich:

  • 13 Fahrradhelme wären natürlich nicht schlecht! 
  • Und Malsachen fehlen: Buntstifte, Filzstifte, Wasserfarben, Fingerfarben, Plaka-Farben, Papier ach, am besten gleich Papierrollen!
  • Und gebrauchte, internetfähige Handys, ganz wichtig!
  • Und Fußbälle

  • Und wenn hier Fachkräfte mitlesen => Bitte melden Sie sich! Es wird weiteres Personal gesucht.

Wenn Sie etwas anbieten möchten, dann bringen Sie bitte nichts direkt vorbei, sondern nehmen Sie bitte Kontakt zu Christian Hoff auf:





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