Sonntag, 6. Dezember 2015

Gertrud Esslinger

Menschen in Baden-Baden, heute:
Gertrud Esslinger


Über mich? Eine Geschichte?“ - Gertrud Esslinger ist verwundert. „Was gibt es denn über mich und meine Arbeit schon groß zu berichten?“ Und damit hat sie ihre Tätigkeit bereits gut charakterisiert. Man sieht sie nicht, sie steht nicht im Rampenlicht, aber ohne sie – gäbe es die Bühne auch nicht, gäbe es keine Szene, in die man sich setzen könnte, keine Kulissen, keinen Handlungsspielort, keine Requisite, nicht mal einen Außendrehort beim Film. Gertrud Esslinger ist Bühnenbildnerin, eine der wichtigsten Menschen einer Show, auch wenn man sie nicht sieht. Still und kreativ verwandeln sie Ideen in Illusion, sind Teil des Ganzen.




Am Freitag waren all diese Menschen aus dem Hintergrund einmal Hauptpersonen, beim Baden-Baden-Award von IHK und Euraka, bei dem die besten Nachwuchskräfte für ihre vielfältigen Arbeiten ausgezeichnet ausgezeichnet wurden. (Mehr dazu hier => KLICK)



Ein magischer Moment für die jeweils bundesweit drei besten jungen Veranstaltungstechniker, Maskenbildner, Veranstaltungskaufleute, Bühnenmaler und Bühnenplastiker, für die Mediengestalter Bild/Ton und die Requisiteure, die für ihre Arbeiten Preise einheimsten. Wenigstens dieses eine Mal standen sie, die sonst im Hingergrund werkeln, nun selber auf der Bühne.




Und wer hat ihnen diese Bühne gebaut? Gertrud Esslinger. Bereits zum sechsten Mal war sie für das Bühnenbild verantwortlich. Aus dem Ärmel schütteln lässt sich das übrigens nicht, das Konzept braucht eine lange Vorbereitungszeit. Bereits vor einem Jahr war das Motto des diesjährigen Awards festgelegt worden – Zauberei – Magie - „der magische Moment“.

Sobald die Idee auf dem Tisch lag, sprang in Gertrud Esslinger das Kopfkino an – und ziemlich schnell stand für sie fest, wie das passende Bühnenbild aussehen soll, das sie für diesen Festabend gestalten würde: Ein Zauberwald sollte es werden.




Faszinierend zu beobachten, wie aus einer ersten gekritzelten Skizze ein Modell wird, dass dann immer größere Ausmaße annimmt.




Zollstock? Fehlanzeige. Das geht mit Augenmaß, sagt sie seelenruhig, und hier zeigt sich dann ihre langjährige Erfahrung. Klar ist sie gespannt, ob alles passen wird, wie sie es sich ausgedacht hat; geändert werden kann vor Ort ja nicht mehr viel. Dabei hat sie diesmal vieles aus der Hand gegeben, zwar genaue Vorgaben gemacht, die Auszubildenden dann aber unter ihrer Aufsicht und in gewissen Maßen machen lassen. Hier das Modell:




Denn erstmals wurde die Herstellung des Bühnenbildes komplett in die Hände von Azubis gegeben. Angehende Bühnenmaler, Bühnenplastiker und Veranstaltungstechniker waren mit von der Partie, in leisen Tönen angeleitet durch die erfahrene freischaffende Kollegin. „Ohne Team geht gar nichts“, ist Gertrud Esslingers Motto, und in diesem Projekt bewahrheitet sich ihre Einstellung.



Unermüdlich streifte sie in den letzten Wochen durch die Studios und Werkstätten des SWR, war immer vor Ort, wenn ihr Rat gebraucht wurde. Im Malsaal, in der Schreinerei, bei den Bühnentechnikern...

In der Woche vor dem Award begleitete sie den Aufbau in der Akademiebühne in der Cité, stimmte gelassen kleinen Abweichungen zu, wenn etwa der Lichttechniker die Dekorationen ein paar Zentimeter anheben wollte... Der Umgangston ist stets ruhig, respektvoll, freundschaftlich. Man merkt, dass hier „Teamplayer“ am Werk sind, die sich blind verstehen. 
 



Hier zwei angehende Bühnenmaler, Svea Ret und Maxi Holder, die im großen Malsaal des Senders Gertrud Esslingers Vorstellungen umsetzten. Klare Vorgaben gab es zwar, sie konnten aber auch ihre eigene Kreativität ausleben.

Gertrud Esslinger macht ihren Job gern, das merkt man ihr an.

Wie kommt man dazu, Bühnenbildnerin zu werden?

Gertrud Esslinger schmunzelt ein bisschen. In unmittelbarer Nähe der Wirkstätte von Margarete Steiff auf der Ostalb aufgewachsen, stand für sie sehr früh fest, dass sie Malerei studieren wollte. Schon als Kind hatte sie lieber gemalt als Hausaufgaben gemacht.

Doch wie es so geht im Leben – die Eltern starben früh, da gab es keinen Raum mehr für Flausen von wegen brotloser Kunst. Andererseits wollte sie unbedingt an die Kunstakademie, unbedingt! Und siehe da, sie fand ein Studium, das sie – so dachte sie - später würde ernähren können: Innenarchitektur und Möbeldesign.

Die Küche bei den Fallers


Aber ach – schon während des Studiums merkte sie, dass sie fehl am Platz war. „Das war doch eher der Ort für höhere Töchter“, sagt sie rückblickend und lacht. „Nicht meine Welt.“

Was tun? Nun, da sie bereits in der Schulzeit Artikel für die Lokalzeitung verfasst hatte, kam ihr der Gedanke, in Zeitschriften über Kunst, Design und Architektur zu schreiben. Also hängte sie ein Aufbaustudium Journalistik dran.

Und während eines notwendigen Praktikums landete sie beim Hörfunk und beim Fernsehen und sah, was in den Studios hinter den Kulissen an phantasievollen Dekorationen für Shows und Filme entstanden. Der Funke sprang sofort über, ein Praktikum als Szenenbildnerin schloss sich an, dann, Mitte der 80er Jahre war es, blieb sie gleich beim damaligen SDR und arbeitete als Assistentin für Filme, Fernsehspiele und Studioproduktionen – unterbrochen nur durch ein Vierteljahr, in dem sie – aus der Friedensbewegung kommend – zum Kaffeepflücken nach Nicaragua ging, um die dortige Revolution zu unterstützen. Die Realität holte sie aber schnell ein. Außer viel Spaß inmitten einer lustigen Gruppe Gleichgesinnter aus aller Welt gab es nichts zu verdienen, und tja – natürlich auch kein Land zu retten. „Wenn man jung ist, hat man halt solche Ideen“, sagt sie heute, milde über sich lächelnd.


 
Ein täuschend echter Baumstamm als Rednerpult für den Award


Zurück in Stuttgart ging es weiter mit der Karriere. Und schon bald bekam sie eine erste eigene Produktion, allerdings im Auftrag von Radio Bremen. Immerhin: eigenverantwortlich! Eine Komödie, die sie in Szene setzen sollte. Sie suchte Drehorte, Landschaften, Straßen, öffentliche Gebäude aus – schnell entwickelte sie ein Gespür für die Ausstattung historischer Geschichten – ihr Spezialgebiet. Weitere Fernspielfilme folgten, die sie für einige Jahre nach Bremen verschlugen. Wie eine zweite Heimat wurde die Stadt im Norden für sie, und sie hatte bei den gar nicht so kühlen Nordlichtern auch schnell den Namen „adoptierte Schwäbin“ weg.

Allerdings war sie immer noch beim SDR angedockt - und das war gut so, denn als sich ihre Tochter ankündigte, war sie, alleinerziehend, auf Hilfe bei der Kinderbetreuung angewiesen, und wer ist besser dafür geeignet als eine Oma. Die aber lebte in Stuttgart. 


 

Es folgte die Mitarbeit in vielen bekannten Fernsehsendungen bis hin zu Tatorten, doch dann, während der Fusion, wurden die Arbeitsgebiete zwischen Baden-Baden und Stuttgart aufgeteilt, die erste Staffel der „Fallers“ stand an – gedreht in Studio 3 und 4 in Baden-Baden. Mit Feuereifer war Gertrud Esslinger – damals hochschwanger - in der ersten Stunde dabei, um zum Beispiel Außenmotive zu finden oder die Werkstatt der „Kräuterhexe“ einzurichten.



Es folgten vielseitige Produktionen, ehe es 2006 ganz nach Baden-Baden ging. Sie wusste, was auf sie zukam, kannte den Ort schon, wusste, „dass die Stadt nicht unbedingt größer als Stuttgart ist“, wie sie es mit ihrem feinen Humor ausdrückt.


Der Schinken bei den Fallers kommt zwar aus einem echten Kühlschrank, ist aber nicht echt

Auf Motivsuche für eine Fernsehproduktion fand sie auch gleich eine Wohnung, alle Ampeln standen also auf Grün. Die wichtigste Zeit ihres Lebens habe sie an der Oos verbracht, sagt sie rückblickend, eine gute Zeit, wenngleich sie durch ein unglückliches formales Versehen ihren Status als feste freie Mitarbeiterin verlor – ein herber Schlag für eine alleinerziehende Mutter. Jetzt darf sie nur noch zwei Produktionen im Jahr für den SWR ausstatten, zu wenig, um davon leben zu können. Immerhin sind dies jedes Jahr zwei Staffeln der geliebten „Fallers“, die sie begleiten darf, und das tröstet sie ein wenig über ihre finanzielle Situation hinweg.

Doch die Zeiten sind unsicher, auch die Mitarbeit bei den Fallers ist leider keine Selbstverständlichkeit, jedes Jahr aufs Neue muss sie bangen, ob sie zum Zuge kommt. Das ist bitter, aber: „Ich finde immer einen Weg“, sagt sie tapfer - um dann leise hinterherzuschieben: „Ich hätte es mir allerdings nicht träumen lassen, dass es mit Ende 50 noch mal so anstrengend werden würde.“

Auf der anderen Seite ist sie auch froh, dass sie aufgrund dieser misslichen Situation oft lange Zeit am Stück frei hat, denn natürlich hat sie ihr politisches Gewissen nicht abgelegt. Heute allerdings rettet sie keine Staaten mehr, sondern Flüchtlinge. Sie ist – neben ihrem Engagement im Bündnis „Baden-Baden ist bunt“ (hier ein Foto von der Friedenskundgebung auf der Fieserbrücke im Mai diesen Jahres) –



eine der treibenden Kräfte in der Helferszene rund um das alte Vicentiushaus, der ruhende Pol, der immer einen kühlen Kopf bewahrt und sich nicht erschüttern lässt.

Sie ist bei Asylbewerbern und Helfern - nicht nur im Vincentiushaus - beliebt, leitet das Café Kontakt, kümmert sich um Einzelbetreuung, um Arbeitssuche der Flüchtlinge und Arztbesuche - kurz: um alles, fast ist sie schon so etwas wie eine ehrenamtliche, sprich: unbezahlte Sozialarbeiterin.

Besonders am Herzen liegt ihr der charmante Schneider aus Gambia, Suleiman Touram. Die sprachliche Verständigung mit ihm ist immer noch schwierig, aber er hängt an ihr, lässt den Kontakt nie abbrechen, und sie hält zu ihm, auch wenn er alles andere als ein Paradebeispiel für gelungene Integration ist. 

Lesen Sie dazu auch seine Geschichte(n) => KLICK und KLICK

Mal sorgt sie sich, weil seine Abschiebung nach Italien droht und er sich lieber umbringen will als dorthin zurückzugehen, mal bittet sie beim Ausländeramt um gut Wetter, damit er sich als Schneider selbständig machen kann (vergebens), dann wiederum begleitet sie ihn zum Anwalt – und ärgert sich, wenn er einen Termin nicht einhält, weil er, wie er entwaffnend lachend erklärt, so schöne Musik gehört hatte, dass er einfach die Zeit darüber vergaß.



Ihr Sorgenkind also, vielleicht kümmert sie sich gerade deshalb so um ihn, weil nicht alles glatt geht bei ihm, vielleicht, weil er ja auch eine Art Künstler ist, Lebenskünstler allemal. Gerade hat er sich wieder bei ihr gemeldet – er leidet wie alle unter der Situation in der Westlichen Industriestraße: Hier hat die Stadtverwaltung die Zimmer „nachverdichtet“, auf 17 Quadratmeter jeweils ein drittes Bett hineingequetscht. Mit allem Übel, das so viel ungewollte menschliche Nähe zwischen Fremden mit sich zieht: Diese Woche habe jemand seinen Spind aufgebrochen und sein gesamtes Nähmaterial gestohlen, schreibt er ihr.

Oh je. Alles weg, was freiwillige Helfer für ihn angesammelt hatten? Nähmaschine, Garn, Stoffreste, Knöpfe, fertige Kleider – alles weg? Hoffentlich nicht. Gertrud Esslinger leidet mit ihm, auch wenn sie eigentlich gar keinen Kopf für Ablenkungen hat. Denn sie steckt im Augenblick mitten in den Vorbereitungen zum Baden-Baden-Award.




Freitag nun ging er im wahrsten Sinne des Wortes über die Bühne, alles hat geklappt, und ganz zum Schluss, zum Gruppenbild, stand sie auch selber mitten drin in ihrem magischen Zauberwald und ...
 



... konnte stolz und erleichtert sein! Es hat alles geklappt! 





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