Menschen in Baden-Baden, heute:
Sabine Kordeuter
Was fällt mir als erstes ein, wenn ich Sabine
Kordeuter beschreiben soll?
Ihr Lächeln.
Ihr offener Blick.
Ihre Gelassenheit.
Ihr Pragmatismus.
Ihre heitere Ausgeglichenheit.
Ihre Freundlichkeit, die aus tiefem Herzen kommt,
die ehrlich ist und nicht aufgesetzt.
Und weiter?
Sie hat große, wache Augen,
duftige, gelockte Haare,
einen Notrufknopf am rechten Handgelenk.
Und...
Sie sitzt im Rollstuhl. Seit vier Jahren schon.
Diagnose: Multiple Sklerose.
Dazu ein Link von Wikipedia => KLICK
Für die unternehmungslustige ehemalige Ooser
Faschingsprinzessin von 1982, Büttenrednerin, Mitglied der
Tanzgruppe im Ooser Carnevalsverein, im Ooser Turnverein,
Vorstandssekretärin der Bäder- und Kurverwaltung, ein Schicksal,
das sie mit bewundernswerter Gelassenheit trägt.
Sabine Kordeuter hätte so viel Grund zu hadern, zu
klagen, zu verzweifeln, aber sie hebt nur die Schultern und lächelt
– und dieses Lächeln kommt von Herzen. „Das kann man nicht
ändern, und es bringt ja nichts, depressiv zu werden“, sagt sie.
„Ich versuche, das Beste aus meinem Leben zu machen, wie es jetzt
ist.“
Einfach ist es nicht.
Wie fing es an? „Schleichend“, sagt sie und wird
dieses eine Mal während unseres zweistündigen Gesprächs ernst.
Nicht umsonst wird MS „die Krankheit mit den tausend Gesichtern“
genannt: Bei den meisten kommt MS in „Schüben“, manchmal bildet
sie sich wieder zurück oder stagniert, manchmal ist für viele Jahre
Ruhe. Nicht so bei Sabine Kordeuter. Sie ist von der heimtückischen
Variante befallen worden, die sich schleichend einnistet und nicht
mehr geht, sondern sich ebenso schleichend immer weiter
verschlechtert.
Die Anfänge waren daher auch nahezu unmerklich. Mit
diffusen Schulterbeschwerden ging sie 2004 zum Orthopäden und
erwähnte eher beiläufig, dass ihr auch ab und zu schwindelig wurde.
Sie kam ins MRT, und der Radiologe tippte auf MS. Zwei quälende Tage
vergingen, bis im Krankenhaus eine Lumbalpunktion gemacht wurde. „MS
scheidet zu 99 Prozent aus“, lautete die erlösende Nachricht.
Sabine Kordeuter war erleichtert. Seit 1997, nach
vierjährigem Amerikaaufenthalt, lebte sie mit Mann und Kind im
hügeligen Vormberg in einem Reihenhaus, das sie sehr liebte,
Haushalt, Kind, kochen, backen, Reisekataloge wälzen,
Gymnastikgruppe... Ihr Leben war prall und vor allem spontan. Da war
kein Platz für Krankheit.
Und dennoch ... es ging weiter. Gleichgewichtsstörungen
hauptsächlich. Manchmal war sie froh, wenn Nachbarn sie nicht sehen
konnten, wie sie sich zum Haus hinauf quälte als sei sie betrunken,
manchmal tastete sie sich von Wand zu Wand weiter. Aber sie wollte es
nicht wahrhaben, war aktiv wie eh und je.
Auf einer Wanderfahrt 2006 mit den Turnerfrauen aber
war es nicht mehr zu ignorieren: Sie stürzte mehrfach, schaffte auch
einfache Wandertouren nicht mehr. Die Bandscheibe vielleicht? Was für
andere eine Schreckensszenario wäre, bedeutete für sie einen
letzten Strohhalm. Wieder Untersuchungen in der Stadtklinik, diesmal
kam die Diagnose schneller und brutaler. „Wir brauchen keine
Zusatzuntersuchungen mehr,“ erklärte ihr der Professor nach dem
erneuten MRT, „es ist eindeutig MS“.
Niederschmetternd für eine aktive Frau mit gerade mal
45 Jahren. Sofort begann die Therapie mit verschiedenen Medikamenten,
Kortison... aber nichts half. Die schleichende Form der Krankheit ist
unentrinnbar, unheilbar, unaufhaltsam.
Noch kämpfte Sabine Kordeuter, weigerte sich, Hilfe
anzunehmen. Wenn es nicht mehr ging, dann stellte sie sich eben zum
Staubsaugen den Stuhl in die Mitte des Zimmers und legte im Sitzen
los, soweit die Arme kamen. Aber irgendwann fiel ihr auch das Gehen
und das Stehen zunehmend schwer. Ein Rollator hielt Einzug in das
schmucke Reihenhaus, immer noch bekämpft. „Ich bin erst mal mit
Nordic-Walking-Stöcken los, das sah sportlicher an“, erinnert sie
sich an die damalige Zeit. Sie war doch erst Mitte 40! Das konnte
doch alles nicht wahr sein!
Verbissen machte sie weiter, fuhr weiter zum
regelmäßigen Turnen nach Oos, chauffierte den Sohn über Land...
„Plötzlich merkte ich, dass es nicht mehr ging.“
„Ich war fertig, wusste nicht mehr, wie es
weitergehen sollte.“ Der Hausarzt tat das einzig Richtige, er
überwies sie für sechs Wochen in eine psychosomatischen Abteilung
der Rheumaklinik in Baden-Baden. „Zuerst habe ich gestutzt. Kein
Fernseher im Zimmer, kein Internetanschluss“, weiß sie noch. Man
gab ihrem Ehemann zwei Minuten, um sich von ihr zu verabschieden,
dann war sie sechs Wochen abgeschnitten von der Außenwelt. „Es
waren sechs super Wochen“, sagt Sabine im Nachhinein und strahlt.
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe mit verschiedensten Problemen,
die aber gerade durch die Vielfältigkeit der Probleme
unwahrscheinlich zusammengeschweißt wurde, dazu eine Therapie, in
der sie lernte, sich ins Unvermeidliche zu fügen.
An einem Wochenende kam sie wieder heim, und schon am
Sonntag setzte sie sich an den Computer und suchte nach einer
rollstuhlgerechten Wohnung. Es fiel nicht leicht, sich vom geliebten
Haus zu verabschieden, aber das Leben fügte es wunderbar, sie stieß
direkt auf eine im Bau befindliche Wohnung im Stadtteil Oos, wo sie
geboren wurde und noch fest verwurzelt war. Das Haus, in dem ihre
Wohnung liegt, beherbergt gleichzeitig die Praxis ihres Hausarztes
und eine Physiotherapie-Praxis. Ein echter Glücksfall also.
Ausreichend großer Lift und breiter Hausflur, eine
Rampe zum Eingang, breite Türen ohne Schwellen, absenkbarer Herd,
Rampe hinaus auf die Dachterrasse – es sind eigentlich nur
Kleinigkeiten, die die Wohnung rollstuhlgerecht machen, aber sie
ermöglichen es Sabine Kordeuter heute, - unterstützt von einem engen Netzwerk aus Familie und Freunden - selbstbestimmt und
eigenständig zu leben. Lediglich beim Baden braucht sie Hilfe, weil
man die Dusche nicht mehr rollstuhlgerecht hatte absenken können.
Vieles schafft sie aber selbst, auch wenn es natürlich
nur langsam geht und mit Schmerzen verbunden ist. Anderes, wie
Kochen, geht nicht mehr, weil sie mit der linken Hand nicht mal mehr
eine Zwiebel festhalten kann. Aber sie weiß sich in jeder misslichen
Lage bewundernswert zu helfen: Tiefkühlkost statt Gemüseschneiden,
e-books statt der geliebten Bücher, deren Seite sie nicht mehr
umblättern kann. Ein altes Hobby ist ihr aber noch geblieben, und
darüber ist sie froh: Das Sticken. Winzige Kreuzstiche waren es
früher, jetzt ist das Material etwas gröber geworden, aber sie
beugt sich mit Hingabe über die Muster. Zum Fernsehen schafft sie es
noch in den Sessel mit Aufstehhilfe, anderes macht sie vom Rollstuhl
aus.
Rollstuhl – was für ein Schreckenswort! Noch war es
nicht soweit, als Sabine Kordeuter 2008 in die Wohnung zog. Aber Ende
2009, bei einer erneuten Reha in Bad Wildbad, zu der sie sich noch
mit dem Rollator schleppte, war es dann so weit. Der Gang zum
Speisesaal war weit, es bedurfte großer Anstrengungen und Planungen,
sich rechtzeitig loszuquälen, um pünktlich am Tisch zu sitzen. Da
schlug ihr jemand ganz spielerisch vor, es doch einmal mit dem
Rollstuhl zu versuchen. Sabine Kordeuter willigte ein, und „im
selben Augenblick habe ich gemerkt, dass es sooo eine Erleichterung
war“. Der Rest der Reha bestand sodann aus Training mit dem Rolli,
dem mechanischen wie dem schwierig zu bedienenden elektrischen, und
zum Schluss wurde ein Rollstuhl ganz nach ihren Wünschen und
Bedürfnissen angepasst und bestellt. „Das war wie Schuhe kaufen“,
lacht sie rückblickend.
Seit Januar 2010 sitzt sie nun also in dem Gefährt.
Geschickt rollt sie durch die Wohnung, bringt Kaffeetasse und Gläser
mit einem Tablett auf dem Schoss an den Tisch. Draußen im Hausflur
wartet der E-Rolli für größere Touren.
Anfangs habe es Überwindung gekostet, den Rolli auch
draußen zu benutzen, erinnert sich Sabine Kordeuter. Aber schnell
merkte sie, dass er ihren Radius vergrößerte. Sie liebt es, durch
die grüne Einfahrt zu fahren und in der Cité zu shoppen, wobei sie
schnell merkte, dass es als Rollstuhlfahrerin schon Hindernisse gibt,
an die man zunächst nicht denkt. Umkleidekabinen zum Beispiel sind
zu eng für sie, Schuhe kaufen ist ebenfalls ein Problem. Was tut sie
dagegen? „Im Internet bestellen“, sagt sie pragmatisch, „und
Schuhe zwei Nummer größer kaufen. Dann kann ich sie alleine
anziehen.“ Sie lacht, als sie fortfährt: „Es macht ja nichts,
wenn sie zu groß sind, ich kann ja nicht über sie stolpern.“
„Stolperstellen“ gibt es in der Stadt trotzdem
viele für sie. An die erste Busfahrt zum Weihnachtsmarkt erinnert
sie sich noch mit Grausen, weil der Fahrer unfreundlich war, doch
inzwischen sind die Busfahrer geschult worden, es gab in den letzten
Jahre keine weitere Panne mehr, betont sie.
Barrierefreie Läden zu finden ist hingegen immer
wieder ein Problem. Zwar hat sie ein großes Netzwerk von Helfern
oder ganz pragmatische Lösungen zur Hand wie den Optiker, der dann
eben zu ihr nach Hause kommt und die Augen vermisst. An manchen
Geschäften in der Innenstadt aber kann sie leider nur sehnsüchtig
stehen bleiben, Treppen versperren ihr vielfach den Weg. Hinzu kommt
die missliche Sache mit den Toiletten, die oft genug nur über
Treppen zu erreichen oder zu schmal sind. Zwar gibt es im Kurhaus,
Theater und Festspielhaus Möglichkeiten, aber Cafés und Restaurants
sind für solche Bedürfnisse meistens nicht gerüstet. Dennoch ist
das kein Grund für sie, sich zu beklagen. „Wenn ich weiß, dass
ich abends ausgehe, dann trinke ich halt tagsüber nur wenig“,
lautet ihre Lösung.
Dankbar ist sie der Stadt , dass es von Amts wegen
sechs Gutscheine pro Monat gibt, mit denen sie sich gegen einen
geringen Eigenanteil mit dem Rollitaxi ins Kino, zum Essen oder zu
Freunden chauffieren lassen kann. Diese Fahrten sind rein „für den
Erhalt des sozialen Lebens“ gedacht, nicht für Touren zu Ärzten
und Therapeuten. „Das finde ich richtig toll“, betont sie.
Natürlich stößt sie im Alltag an Grenzen, wenn sie
mit dem Rollstuhl unterwegs ist, oft werden diese Grenzen jedoch
durch hilfsbereite Mitmenschen überwunden. „Wenn ich in einem
Geschäft zu den oberen Regalen schaue, spricht man mich oft an und
bietet Hilfe an.“, sagte sie. Hilfe, die sie übrigens immer gerne
annimmt. Meine eigenen Bedenken, wann und ob man Hilfe anbieten
sollte und wann lieber nicht, zerstreut sie. „Ich freue mich immer,
wenn mich jemand anspricht und fragt“, sagt sie schlicht. Wenn
nötig, bittet sie aber auch selbst um Hilfe. „Das lernt man
irgendwann.“
Dennoch: „Auf Hilfe angewiesen zu sein, wenn man sein Leben
lang selbständig gewesen ist, das muss man lernen. Das ist heftig.“
Sie hat es gelernt. Wie sie auch lernen musste, dass Krankheit und
Schicksal auch den Freundeskreis verändern. Nur wenige engste
Freunde sind ihr geblieben, andere hat sie verloren, dafür aber eine
Menge neuer Kontakte gewonnen. Das Internet ist da sehr hilfreich. Es
gibt zwar vor Ort eine Selbsthilfegruppe „Amsel“ für MS-Kranke,
„aber die trifft sich halt nur einmal im Monat.“ Im Internet
hingegen hat sie Gleichgesinnte und Leidensgenossen rund um die Uhr
zur Hand. Und nicht nur das.
Besonders einige Gruppen auf Facebook haben ihr einen großen
Kreis neuer und alter Freunde beschert. Schulfreundinnen aus Oos hat
sie über diese Plattform wiedergetroffen, andere Baden-Badener
virtuell und real kennengelernt, mit manchen verbindet sie inzwischen
eine tiefe Freundschaft, auch wir haben uns hier kennengelernt.. Eine
spezielle „geheime“ Gruppe hat es ihr besonders angetan. „Da
kommt schon morgens der erste witzige Kommentar, und der Tag ist
gerettet.“ Es bleibt nicht beim virtuellen Austausch, wo und wann
immer die Gruppe sich trifft, wird Sabine Kordeuter dazugeholt.
Selbst als die Gruppe eine Überraschungsparty für ein Mitglied im
Moviac-Kino veranstaltete, wurden ganz unaufgeregt genügend starke
Männer organisiert, die Sabine in ihrem Rollstuhl wie
selbstverständlich die lange Treppe hinunter und auch wieder hinauf
trugen.
Was fehlt ihr heute im Gegensatz zu früher?
Die Antwort kommt schnell. „Das Autofahren. Dieses spontane
Einsteigen und Losfahren können.“
Und damit einhergehend auch das Verreisen. „Früher habe ich
ständig Reisekataloge gewälzt. Das wird jetzt schwierig.“ Aber
wie Sabine Kordeuter so ist, gejammert wird nicht. Zum einen, weil
sie noch zum fünfzigsten Geburtstag mit ihrer Freundin auf Gran
Canaria war und soeben von zwei Wochen Strandurlaub im
rollstuhlgerechten Kühlungsborn an der Ostsee zurückgekommen ist.
Zum anderen, weil sie von einer tiefen Ausgeglichenheit geprägt ist.
„Ich war vor der Krankheit vier Jahre mit meinem Mann und meinem
Sohn in New Mexiko, ich habe New York gesehen und Hawaii – ich habe
doch so viel gesehen und erlebt im Leben. Dafür bin ich einfach nur
dankbar.“
Und so möchte sie ihrer Situation auch etwas Positives
abgewinnen: „Ich bin froh, dass ich so viele neue Freunde
kennengelernt habe, auf die ich mich verlassen kann und die mir
helfen“, resümiert sie schlicht.
Gibt es etwas, das ihr Sorgen bereitet?
Sie hält inne und schließt kurz die Augen, als sei ihr
schwindelig. „Ich fürchte mich vor dem, was sein wird, wenn es
hier nicht mehr so geht wie bisher. Wenn ich meine Selbständigkeit
verliere.“ Was wird dann sein? Welche Alternativen gibt es? Eine
Wohngemeinschaft für MS-Kranke wäre ideal. Aber sie macht sich
nichts vor. Es gibt nichts dergleichen für Menschen wie sie,
zumindest ist ihr nichts bekannt. Die Aussicht? Eine Pflegekraft oder
– im schlimmsten Fall, denn Einrichtungen für jüngere Menschen
gibt es ihres Wissens nicht – Endstation Senioren-Pflegeheim. „Davor habe ich
Angst.“
Um dieses Szenario so lange wie möglich herauszuzögern, tut sie viel. Kortisonkuren, Physiotherapie, Massage, Ergotherapie, Laufbandtraining. Gerade letzteres ist anstrengend. 350 Meter in 20 Minuten schafft sie mit Hilfe von zwei Fachkräften in der Praxis Provita, in einem Gurtsystem wie ein Fallschirmspringer aufgehängt. Sie kann die kraftlosen Beine selber nicht mehr bewegen, die Füße werden manuell auf dem Band geführt. Gerade in der Ferse sitzen viele Nervenbahnen, die Beine werden besser durchblutet, das Gehirn bekommt Anreize, weiterhin lebenswichtige Impulse an alle Körperteile zu senden, erfahre ich von Katja Borulya, der Leiterin der Praxis.
Und das Wichtigste: "Danach geht es mir besser", sagt Sabine Kordeuter. Viel mehr kann sie jetzt nicht reden. Angestrengt sieht sie nach vorne, zum Spiegel, aber dennoch gibt sie alles, um auch für dieses letzte Foto unseres Treffens attraktiv und nett und positiv auszusehen.
Danke Sabine! Großen Respekt vor deiner Lebensfreude. Mögest du für viele, die sich in ähnlicher Situation befinden, ein Vorbild sein.