Menschen in Baden-Baden - heute:
Giuseppe Boscia
"Komm, setz dich doch kurz und trinke einen Kaffee mit mir", ruft er mir manchmal freundlich vom Straßencafé aus zu, wenn ich durch die Stadt haste.
"Keine Zeit, ein andermal", erwidere ich dann lächelnd - nur, um mich an der Ecke zu fragen, was ich da eigentlich tue? Können die angeblich wichtigen Geschäfts- oder Einkaufsgänge nicht mal zehn Minuten warten? Sollte man sich nicht einfach ab und zu kleine Auszeiten im hektischen Leben gönnen? Macht man sich diese ganze Hektik nicht manchmal selbst?
Giuseppe Boscia - der Lebenskünstler
"Carpe diem" heißt es doch so schön! - "Nutze den Tag" oder "Genieße den Augenblick".
Und in der Tat: "Carpe diem" und Giuseppe Boscia - das ist eine unzertrennliche Einheit hier in Baden-Baden.
Vielen ist der warmherzige Sizilianer noch aus der Zeit, als er in der Fußgängerzone ein kleines, liebevoll eingerichtetes Geschäft mit eben jener Bezeichnung "Carpe diem" betrieb, ein Begriff. Mit italienischen Weinen und anderen italienischen Spezialitäten handelte er dort acht Jahre lang. Der Zufall hatte ihn 1995 auf diese Idee gebracht und in unsere Stadt gespült. "Ich hatte ein ähnliches Geschäft in Offenburg, und eine Stammkundin reiste immer eigens aus Baden-Baden an, um Balsamico-Essig bei mir zu kaufen" erinnert er sich. Er wunderte sich darüber, und irgendwann kamen die beiden ins Gespräch. Giuseppe erfuhr, dass es für Feinschmecker zur damaligen Zeit schwer war, in Baden-Baden italienische Spezialitäten zu erstehen, und die Kundin hatte auch gleich eine Lösung parat: Sie wusste ein Haus in dem gerade ein passender Geschäftsraum frei wurde. Giuseppe zögerte nicht lange und griff zu. "Man muss auf das Leben hören", sagt er - trotz allem, muss man heute sagen, denn es lief nicht lange gut mit dem Laden.
"Nach acht Jahren waren meine Leidenschaft und meine Ersparnisse für dieses Geschäft, in das ich auch meine ganze Seele gesteckt hatte, aufgebraucht", gesteht er wehmütig. Heute kann er schon wieder schmunzeln, wenn er an diese Zeit zurückdenkt: "Immerhin - meine Seele habe ich behalten."
Giuseppe Boscia - der Philosoph.
Er empfängt mich in seinem idyllischen Garten, in dem man noch das schöne alte Geschäftsschild von einst entdecken kann: "Carpe diem" mahnt es hinten in der selbst gemauerten Ecke, umrahmt von Amphoren, Figuren und Tontöpfen gerade in der richtigen Zahl und Anordnung, lässig drapiert, genau an der richtigen Stelle. Erinnerungen an die Vergangenheit, in der er auch eine Zeitlang Keramikwaren aus dem Heimatdorf importierte, bevor sich seinen Traum vom Weinhandel erfüllte.
An jene Zeit erinnern noch die Weinregale, wenn man in den Keller des kleinen Doppelhauses hinabsteigt. Noch heute versorgt Giuseppe treue Kunden mit den Lieblingstropfen aus dem Piemont und aus Sizilien; dazu kommt noch Olivenöl, selbstverständlich biologisch und hoch prämiert, das der 65jährige schon seit 19 Jahren von der Familie di Giovanna in Fünf-Liter-Kanistern bezieht, um die Abfüllkosten niedriger zu halten.
Giuseppe Boscia - der Genießer
Zurück im Sonnenlicht, im Garten. Ein Feuerkorb, gemütliche Sitzgruppen, Rosen, Kräuter. Er hat für meinen Besuch Tomaten (bestreut mit Oregano), Pesto und Käse gerichtet, Weißbrot ist schnell aufgeschnitten, ein Teller mit feinstem Olivenöl, die prächtigsten handverlesenen Erdbeeren und Oliven warten schon auf dem Gartentisch. Ich wünschte mir einfach nur ein Glas Wasser, aber es muss natürlich noch ein ordentlicher Schuss alkoholfreier Crodino hinein, garniert mit Minze, die er im Vorbeigehen pflückt.
Lucky kommt hinzu, der Familiehund, um den sich eine magische Geschichte rankt: Giuseppe und sein Sohn haben den Mischling in der Heimat Sizilien gefunden, nur ein paar Tage alt, mit zwei weiteren Welpen in einem Mülleimer entsorgt. Lucky, die Glückliche, überlebte als einzige und wurde nach Baden-Baden geschmuggelt, wo sie als typisches Familienmitglied zweisprachig aufwuchs und den Kommandos nun folgt, egal, ob sie auf Deutsch oder auf Italienisch gegeben werden.
Giuseppe Boscia - der Erzähler
Ach, aber Giuseppes sollte endlich anfangen, mir seine Geschichte zu erzählen! Viel muss ich allerdings nicht aufschreiben, denn das hat schon er besorgt, mit einem passenden Titel, gedruckt, gebunden, als e-book auch:
"Erzähl mir von dir, Papa", das hat ihn nämlich vor vielen Jahren sein Sohn gebeten, und Giuseppe war der Aufforderung gern gefolgt und hat erzählt. Von einem kleinen Sizilianer namens Peppino, von der Zeit, in der dieser als Sohn des Dorfschmieds in dem kleinen Keramiker-Städtchen Santo Stefano di Camastra aufgewachsen war, von der Zeit, als er als Elfjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland kam - die ersten Gastarbeiter von Hausach im Schwarzwald. Keine leichte Zeit, keine schönen Erinnerungen, denn Pepppino - oder Giuseppe - durfte nach damaligen Bestimmungen nicht in die Schule gehen. Eine große Strafe für den wissbegierigen Jungen, dem fortan nicht anderes übrig blieb, als sich in den Straßen und Wäldern der Schwarzwaldortes herumzutreiben, statt seinem Traum vom Lernen nachzugehen. Die Kinder hänselten ihn wegen seines Anders-Seins, er wurde unglücklich, ein mitleidiger Lehrmeister nahm ihn schließlich unter seine Fittiche und ließ ihn in seiner Muttern-Fabrik eine Art Vor-Lehre machen. Es dauerte aber nicht lange, da erschien auch hier die Obrigkeit und machte dem gut gemeinten Treiben - und dem Traum vom Lernen - erst einmal ein Ende.
Doch später klappte es doch noch mit der Idee, vorzeitig begann Giuseppe eine Ausbildung zum Industriemechaniker, sog in den Berufsschule alles auf, was ihm an Wissen angeboten wurde, und doch blieb er unglücklich in seinem Beruf. Musik und Philosophie hätte er gern studieren wollen, sagt er heute rückblickend. Von Klein auf bewunderte er die Komponisten, denen es gelang, Gefühlen Töne zu geben. Das war für ihn Faszination pur. Verzweifelt, dass ihm das verwehrt wurde, begann er auf der Straße zu singen, versuchte sogar Ende der 60er Jahre als Zwanzigjähriger, sein Glück im freien, liberalen Schweden zu finden, aber auch das gelang ihm nicht und er kehrte zurück nach Deutschland und in den ungeliebten Beruf.
Aber er fand einen Ausweg: Die Literatur. Noch heute ist er einem Lehrer in Sizilien dankbar, der in ihm, als die Familie ein Jahr lang in Palermo auf Ausreisepapiere wartete (ursprünglich sollte es nämlich nach Australien gehen), den Samen für die Liebe zur Literatur eingepflanzt hatte.
Neben der Arbeit verschlang er sie nun alle, die Werke von Rousseau, Kafka, Platon - alle auf deutsch, nur seinen Platon hat er vorsichtshalber auf Italienisch studiert. Diese Liebe zum geschriebenen Wort ist ihm bis heute erhalten geblieben. Bei meinem Besuch liegt inmitten des italienischen Idylls wie beiläufig ein dicker Schinken, an den ich persönlich mich noch nicht herangetraut habe: Ulysses von James Joyce - auf deutsch.
Auch sein eigenes Buch hat er - mit Unterbrechungen über viele Jahre hinweg - auf Deutsch verfasst, erzählt hat er die Geschichten seinem Sohn indes auf Italienisch.
Überhaupt - die Sprache! Es ist bemerkenswert, in welch einem poetischen Deutsch er sein Buch verfasst hat - nicht zu glauben, wenn man bedenkt, dass er als Elfjähriger ohne jede Sprachkenntnisse nach Deutschland kam - oder zumindest fast ohne Sprachkenntnisse. Drei Wörter hatte ihm damals ein ehemaliger Kriegsgefangener noch in Sizilien beigebracht: "Brot", um nicht zu verhungern, und "Fräulein spazieren", um glücklich zu werden.
Giuseppe - der Sänger
Die Sprache hat der kleine Giuseppe in Hausach auf der Straße, der seit Erscheinen seines Buches fast schon legendären Suppegass, auf seine ganz eigene Weise gelernt: Er sang "Marina", "Ciao, Ciao Bambino" und "Volare", die deutschen Nachbarskinder antworteten mit "Alle meine Entchen". Das Eis war gebrochen.
Der Gesang begleitet ihn sein Leben lang. Er sang auf Festen, nahm später private Gesangstunden, ließ sich in klassischem Gesang ausbilden und erfreut heute seine Freunde bei passenden Gelegenheiten mit kleinen Auftritten. Und während er singt, geht eine Verwandlung in ihm vor. "Mein Innerstes kommt nach außen, die Emotionen bringen meine Seele zum Vorschein." Seine Augen leuchten, wenn er das schildert.
Kein Wunder also, dass er ein neues Projekt plant: Zusammen mit einem Freund, der ihn auf der Gitarre begleitet, will er im Herbst eine CD mit alten sizilianischen Liedern aufnehmen. Wenn Sie auf das nächste Bild klicken, können Sie eine kleine Kostprobe davon hören. Auch hier gibt es natürlich eine Geschichte obendrauf: Das Lied Pescispada handelt von einem Schwertfischpaar. "Schwertfische sind monogam bis in den Tod", weiß Giuseppe, und hier in diesem Stück wird nun das Weibchen gefangen, das Männchen schwimmt verzweifelt und gegen den Willen des Weibchens hinter dem Netz her und gerät schließlich selber in Gefahr... Klicken Sie aufs Bild.
Giuseppe freut sich schon darauf, die traditionellen sizilianischen Weisen in der Sprache seiner Kindheit zu singen und versteht dies als seinen eigenen kleinen politischen Beitrag, damit man Sizilien auch mit Angenehmem verbindet und nicht nur mit dem Wort Mafia.
Inzwischen ist eine dritte Länderliebe in sein Leben getreten: Irland, das Sizilien des Norden, wie Giuseppe es nennt. Und so ist es auch der deutsche Sizilianer in ihm, der sogleich ins Schwärmen verfällt: "Wenn ich mir einen Traumtod wünschen könnte, wäre es, singend in Irland zu sterben wie eine Zikade in Sizilien", schreibt er in seinem Buch. Nur die Sprache, die müsse er noch lernen. Und wie? "Bei und von den Iren selbst, in einem Pub, mit Guinness und melancholischen Liedern. So wie einst auf der Straße, in der Suppegass von Hausach." Sein Sohn hat übrigens bereits den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht: Er besucht zurzeit ein College in Dublin.
Haben wir noch etwas vergessen? Er schreibt mir eine besorgte E-Mail: Ich soll auf jeden Fall noch erwähnen, "dass, bei all meinen Jugendkonflikten der Sport, neben den Büchern und der Musik auch eine große Rolle gespielt hat. Ich war beim Leichtathletikverein ESV Offenburg Langläufer und oft ein guter Dritter, wie zum Beispiel 1970 in Baden-Baden, bei einem Vergleichs-Kampf mit den Franzosen, mit 9:16 Minuten über 3000 Meter." - "Vielleicht musst du jetzt schmunzeln", setzt er noch hinzu.
Ja, das tue ich. Und ich hoffe, in unseren gemeinsamen Stunden und Gesprächen einen neuen Freund fürs Leben gewonnen zu haben.
Wer Wein und Olivenöl von Giuseppe Boscia beziehen will, kann sich per Mail unter
g.boscia @ gmx.de (Leerzeichen weglassen) oder Tel. 0160 90235809 bei ihm melden.
Sein Buch im Drey-Verlag ist in der Buchhandlung Straß KLICK in Baden-Baden (und als e-book bei Amazon) erhältlich.
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