Sonntag, 24. Mai 2015

Demenz


Gefühle werden
nicht dement


Sie kommen aus der Praxis Ihres Arztes. Er hat Ihnen gerade mitgeteilt, dass Sie an Demenz leiden. Wie fühlen Sie sich jetzt? Was erwarten Sie? Und wem werden Sie die Diagnose mitteilen?“

Hedwig Neu weiß, wie sie ihre Zuhörer packen kann. Demenz – eben noch ein Thema weit weg - ist plötzlich da. Ganz nah. Unter der Haut. Lässt sich nicht mehr abschütteln. Wie würde es einem also gehen mit so einer Diagnose?

So wie der Frau im Beispiel? Die von einem Augenblick auf den anderen mit Samthandschuhen angefasst wird und sofort am Rand des Lebens geparkt wird? Die das ganze Leben im Haushalt gepusselt hat und der man plötzlich nichts mehr zutraut und die im Fernsehsessel Platz nehmen soll? Die also nutzlos ist? Die sich schämt, wenn sie vergisst, wo sie ist oder was sie tun wollte?

Ja, wie geht es Menschen mit Demenz? Und: Wie geht man ihnen um?

Fragen, auf die es – dank der Demenzkampagne des Pflegestützpunktes Baden-Baden - Antworten gibt. Hedwig Neu, eine resolute Pfälzerin, gab diese Woche 20 Teilnehmern eines Tagesseminars wertvolle und unvergessliche Einblicke in die Gefühlswelt der Erkrankten, sie gab den Teilnehmern aber auch Anregungen, wie sie gewisse Situationen besser einschätzen und darauf reagieren können.




Seit vielen Jahren schon beschäftigt sich die gelernte Krankenschwester Hedwig Neu mit dem Thema Demenz. Und sie hat gelernt, wie man es NICHT machen soll: Nämlich, es schönzureden, die Betroffenen nicht ernst zu nehmen oder es gar – wie es in den Köpfen der meisten noch herumspukt - mit einem bildlichen Vergleich zu versuchen: Ist das Gehirn eines Demenzkranken nicht wie eine Batterie, die immer leerer wird, bis zum Schluss nur noch eine leere Hülle übrigbleibt?

NEIN, sagt Hedwig Neu.

Sie ersetzt das Bild des leeren Akkus durch ein anderes Bild: Das eines Puzzleteils, das irgendwo in den Falten des Gehirns verschwindet, nicht mehr gefunden wird, aber immer noch da ist. Und überhaupt:

Gefühle werden nicht dement!

Als Leiterin des Validationszentrums und Lehrerin für Pflegeberufe im Landesverein für Innere Mission in der Pfalz weiß sie, wovon sie redet.

Und mit der Methode der "Validation" hat sie eine Möglichkeit gefunden, wie man sogar bis in die letzten Stadien der Demenz mit den Betroffenen kommunizieren kann. Das erleichtert den Kranken, aber auch den „Orientierten“ das Leben, und so richtete sich das Tagesseminar denn auch vornehmlich an Berufsgruppen im Dienstleistungsgewerbe, die häufig mit desorientierten Menschen in Kontakt kommen: Banken, Handwerker, Gastgewerbe...

Mit großem schauspielerischem Talent spielte Neu ihnen Szenen aus dem Alltag von Demenzkranken vor und appelierte:

Das Hauptklientel der heutigen Demnzkranken ist älter als 80 Jahre. Diese Menschen sind sich bewusst, dass das Lebensende näher rückt. Sie haben keine Langzeitziele mehr. Sie können sich also auch nicht mehr grenzenlos beschäftigen. Die haben andere Aufgaben, nämlich Dinge, die sie noch zuende bringen wollen. Sie gehen zurück in die Vergangenheit und versuchen, offene Rechnungen zu begleichen.

Diese Aufarbeitungszeit kann man in vier Phasen aufteilen:

1. Mangelhaft oder unglücklich orientiert

Die Betroffenen sind sich ihrer Unfähigkeit, mit dem Alterungsprozess fertig zu werden, bis zu einem gewissen Grad bewusst, können dies aber nicht zugeben.

Sie wissen zum Beispiel noch, wo die Bank ist, wo der Bäcker, wie die Kontonummer lautet. Aber das Kurzzeitgedächtnis lässt nach.

Allen zu eigen ist, dass sie unter Alltagsbeeinträchtigungen leiden, und zwar nicht nur im Kopf. „Mit 80 ist der Körper einfach alt. Schmerzen bestimmen zunehmend das Leben. Die Sinne werden schwächer: Augen, Gehör, Tastsinn. Meist kommt eine Zweiterkrankenung wie Diabetes oder Herz dazu."

Kommt ein Mensch in dieser Phase in ein Heim, sollte es ihm erlaubt werden, über seine Situation zu weinen. "Sagen Sie ihm nicht, es sei alles nicht so schlimm. Lenken Sie ihn nicht mit Bemerkungen über das schöne Wetter ab. Nehmen Sie ihn ernst." Nur wer Gefühle zulässt, kann sie verarbeiten. Die meisten der heute über 80jährigen haben jedoch in ihrem oft harten Leben (Kriegsgeneration) nur gelernt, Gefühle zu unterdrücken und wegzuschieben, zu funktionieren, ihre Pflicht zu tun. Unerledigte Themen aus der Vergangenheit kommen nun hoch, und anders als früher lassen sie sich nicht mehr wegblenden. Als Ergebnis projizieren diese Menschen ihre Defizite auf ihre Umwelt => bedeutet: "Die anderen haben schuld".


2. Zeitverwirrt

Verlust der kognitiven Fähigkeiten. Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich.

Sie ziehen sich in die Vergangenheit zurück. „Damals war ich glücklich“. Oder „Dafür habe ich nie Zeit gehabt“. "Damals hatte ich eine Aufgabe und wurde gebraucht. Damals habe ich Liebe geben dürfen."

Menschen in dieser Phase brauchen Resonanz. Wichtig ist, dass man als Orientierter nun offen ist und offen erforscht, um was es dem Menschen gehen könnte. Was war sein Thema? Was berührt ihn?


3. Sich wiederholende Bewegungen

Wenn die Sprache mehr und mehr verloren geht, drücken sich desorientierte Menschen über Bewegungen aus und teilen so ihre Bedürfnisse mit.

Sie brauchen jetzt ein Gegenüber, das ihnen Resonanz gibt. Sie brauchen Anteilnahme, weil sie ein Mensch sind.


4. Vegetieren

Der alte Mensch verschließt sich völlig der Außenwelt. Der eigene Antrieb ist minimal, gerade genug, um zu überleben.

Auch in dieser Phase ist Kommunikation möglich! Auch jetzt ist der Mensch immer noch für Emotionen, Berührungen oder ein Lied empfänglich!



Wie kann man ihnen helfen?

Man sollte...

sich selber "runterzählen" (zentrieren)

beobachten und anpassen

Schlüsselworte wiederholen

W-Fragen (außer Warum)

auf Gefühle eingehen, wenn sie geäußert werden

Nähe / Distanz => Berühren, Singen


Geben Sie keine Antworten, sondern wiederholen Sie Schlüsselwörter.

Beispiel: Ein verwirrter Mensch beschuldigt Sie oder jemanden anderen, sein Geld zu stehlen. Wiederholen Sie das: „Ihr Geld wurde gestohlen?" Lassen Sie ihn in Ruhe antworten. Fassen Sie nach: „Wofür brauchen Sie denn das Geld?“ Mögliche Antwort des Verwirrten: "Um der Enkelin ein Geschenk zu kaufen." - „Ach, für Ihre Enkelin?“ - Antwort abwarten. „Wie alt ist denn Ihre Enkelin?“ etc...

Fühlt sich der Mensch auf diese Weise ernst genommen, hat er die Möglichkeit, sich wieder zu entspannen. Manchmal fällt ihm dann sogar wieder ein, wo er das Geld verlegt hat. Das wird er Ihnen allerdings nicht mitteilen.

Wichtig ist also in dieser Phase: Antworten zusammenfassen und wiedergeben. Suchen Sie nicht gleich eine Lösung, sondern nehmen Sie den Menschen ernst. In Blickkontakt bleiben, den Gesichtsausdruck anpassen. Wenn der Mensch wütend ist, reizt es ihn, wenn Sie ihn anlächeln. Er fühlt sich nicht ernst genommen. 

Hierzu ein Video des ORF zum Thema => KLICK 


Auf der Webseite von Pflegewiki => KLICK habe ich folgende Zusammenfassung gefunden, wie man diese Methode der "Validation" (= Wertschätzung) in der Praxis umsetzen kann:
  • der demente Mensch wird so akzeptiert wie er ist
  • der Rückzug in die Vergangenheit wird respektiert
  • seine Verhaltensweisen werden nicht verkindlicht und es wird nicht an ihm herumerzogen
  • er wird nicht korrigiert ("Ihre Mutter ist doch schon tot")
  • er wird nicht abgelenkt ("Nun gehen wir erst einmal einen Kaffee trinken.")
  • seine Gefühle werden nicht heruntergespielt ("Wer wird denn bei solch einem Wetter traurig sein")
  • er wird nicht getadelt ("Das ist aber gar nicht schön, dass sie so böse sind.")
  • es wird nicht nachgebohrt ("Jetzt denken sie doch mal nach - wie war das genau")
  • man muss sich auf den dementen Menschen einstellen und eigene Gefühle zurückstellen
  • wichtig ist ein aufrichtiger Blickkontakt!
  • es wird in einer deutlichen, tiefen und liebevollen Stimme gesprochen.
  • es kann Körperkontakt hergestellt werden (Berührungen wecken Erinnerungen, außerdem werden sie als angenehm empfunden)->in dem 1.Stadium was mangelhafte/unglückliche Orientierung genannt wird, lehnen die Personen jegliche Intimität und Körperkontakt ab
  • die Kernaussage eines Gespräches wird wiederholt und die gleichen Schlüsselwörter benutzt
  • Fragen zur Vergangenheit und dem hier und jetzt werden gestellt
  • es wird dem dementen Menschen Zeit gegeben, um sich auszudrücken, was in ihm vorgeht
  • beim SPIEGELN wird auf die Körpersprache des alten Menschen geachtet, dies sollte jedoch nicht mit dem sogenannten "nachäffen" verwechselt werden
  • es wird dieselbe Körperhaltung oder Körperspannung angenommen
  • seine Bewegungen werden nicht nachgeäfft, der Gespiegelte fühlt sich sonst verspottet
  • respektvolles Spiegeln bedeutet: Den Anderen ernst nehmen, verstehen und bestätigen


Und auch auf die bange Frage, wie es uns Jüngeren einmal gehen könnte, hatte Hedwig Neu Antworten: Prophylaxe ist möglich, sagt sie, wir können den Zeitpunkt der Demenz nach hinten verlegen mit

  • Bewegung (aktiviert die Gehirnzellenkapazität)
  • mentalem Training (Vernetzen der Synapsen trainieren)
  • gesunder Ernährung (wenig Fett)
  • dem Lernen von Bewältigungsstrategien. Lernen Sie, mit Ihren Gefühlen umzugehen. Bringen Sie emotionale Dinge zum Abschluss! Drücken Sie Ihre Gefühle JETZT aus, nicht erst in der Demenz!


Das passende Gedicht dazu:

Warnung  / Jenny Joseph
 
Wenn ich einmal eine alte Frau bin, werde ich Purpur tragen,
mit einem roten Hut, der nicht dazu passt und mir auch nicht gut steht,
und ich werde meine Rente ausgeben für Cognac und Sommerhandschuhe
und für Sandalen aus Satin,
und ich werde sagen “für Butter haben wir kein Geld “.

 
Wenn ich müde bin, werde ich mich auf den Bürgersteig setzen.
Ich werde die Gratisproben in den Geschäften verschlingen
und auf Alarmknöpfe drücken.
Und ich werde meinen Stock gegen die Parkzäune klappern lassen
und Schluss machen mit der Angepasstheit meiner Jugend.

 
Ich werde in meinen Hausschuhen in den Regen rausgehen
und die Blumen pflücken, die in den Gärten anderer Leute wachsen.
Und ich werde spucken lernen.

 
Du kannst die schrecklichsten Blusen tragen und richtig dick werden.
Und drei Pfund Würstchen auf einmal essen,
Oder eine Woche lang nur Brot und saure Gurken.
Und Bleistifte und Kugelschreiber horten,
oder Bierdeckel und Krimskrams in Schachteln.

 
Aber jetzt müssen wir Kleider tragen, die uns trocken halten,
Und unsere Miete zahlen und keine Schimpfwörter auf der Straße benutzen
Und gute Vorbilder für die Kinder sein.
Wir müssen Freunde zum Essen einladen und die Tageszeitungen lesen.

 
Aber sollte ich vielleicht nicht jetzt schon ein bisschen üben?
Damit die Leute, die mich kennen, nicht zu schockiert und überrascht sind
Wenn ich plötzlich alt
bin und anfange, Purpur zu tragen.

 
Jenny Joseph/ 1932


Anmerkung: Der Begriff der Validation (=Wertschätzung) wurde von der Amerikanerin Naomi Feil entwickelt, um mit verwirrten oder dementen Menschen zu kommunizieren und ihnen zu helfen, ihre emotionalen Spannungen abzubauen.

Es gelten dabei die 10 Grundsätze der Validation:

  • Alle Menschen sind einzigartig und müssen als Individuen behandelt werden.
  • Alle Menschen sind wertvoll, ganz gleichgültig, in welchem Ausmaß sie verwirrt sind.
  • Es gibt einen Grund für das Verhalten von verwirrten, sehr alten Menschen
  • Verhalten im sehr hohen Alter ist nicht nur eine Folge anatomischer Veränderungen des Gehirns, sondern das Ergebnis einer Kombination von körperlichen, sozialen und
  • psychischen Veränderungen, die im Laufe eines Lebens stattgefunden haben.
  • Sehr alte Menschen kann man nicht dazu zwingen, ihr Verhalten zu ändern. Verhalten kann nur dann verändert werden, wenn die betreffende Person es will.
  • Sehr alte Menschen muss man akzeptieren, ohne sie zu beurteilen.
  • Zu jedem Lebensabschnitt gehören bestimmte Aufgaben. Wenn man diese Aufgaben nicht im jeweiligen Lebensabschnitt schafft, kann das zu psychischen Problemen führen.
  • Wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, versuchen ältere Erwachsene, ihr Leben wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, indem sie auf frühere Erinnerungen zurückgreifen. Wenn die Sehstärke nachlässt, sehen sie mit dem "inneren Auge". Wenn ihr Gehör immer mehr nachlässt, hören sie Klänge aus der Vergangenheit.
    Schmerzliche Gefühle, die ausgedrückt, anerkannt und von einer vertrauten Pflegeperson validiert werden, werden schwächer. Schmerzliche Gefühle, die man ignoriert und unterdrückt, werden stärker.
  • Einfühlung/Mitgefühl führt zu Vertrauen, verringert Angstzustände und stellt die Würde wieder her.


Ein sehr ergreifendes Video mit Naomi Feil und einer Patientin zeigt, was Validation selbst im letzten Stadium des Rückzugs noch bewirken kann => KLICK





Mehr Informationen zum Thema finden Sie auch auf der Webseite des Landesvereins für Innere Mission in der Pfalz, die ein autorisiertes Zentrum für Validation ist => KLICK

Hier geht es zum Programm der beispielhaften Demenzkampagne der Stadt Baden-Baden => KLICK