Menschen
in Baden-Baden, heute:
Leon
Meyer-Vogelfänger
Er
ist ein Mann, der nur schlecht in wenige Worte zu fassen ist. Ein
Mann, ständig in Bewegung - physisch und geistig. Ein Mann des
Wortes, der Kultur, der Wirtschaft und des offenen Geistes. Ein
liebenswürdiger, kluger Kopf, der seinen Humor nicht verloren hat –
trotz allem, was ihm im Laufe seiner 70 Jahre widerfahren ist. Ein
geistreicher Plauderer und Genießer. Ein Mann, der die Wendungen des
Lebens erfahren und aus ihnen gelernt hat. Ein freundlicher Herr, der
sich gern in stille Winkel dieser Stadt zurückzieht, um hochgeistige
Bücher zu lesen, ein Mann aber auch, der belebenden Plaudereien
nicht aus dem Weg geht. „Herrengespräche“ nennt er sie
nachsichtig, und man merkt ihm an, dass er sie ebenso genießt wie
ein schönes Glas Wein.
So
habe ich Leon Meyer-Vogelfänger in den vergangenen Monaten
kennengelernt. Oft saßen wir im kleinen Olivenhaus in der
Kreuzstraße zusammen, hierhin wird uns auch der Weg am Ende dieser
heutigen Sonntagsgeschichte führen.
Aber
zunächst wollen wir mit dem Anfang beginnen, dem Start ins Leben,
der nicht dramatischer und prägender hätte verlaufen können:
„Meine Mutter brachte mich im Juli 1944 im Elsass zu Welt, mitten
im Bombenhagel und während eines Angriffs algerischer Soldaten.“
Was folgte, war eigentlich Kriegsschicksal: „Die Familie wurde
auseinandergerissen“, heißt es so schlicht in seinem Lebenslauf.
Aber was bedeutete das für den kleinen Leon Vogelfänger genau? Die
Mutter musste das Neugeborene im Nothospiz zurücklassen und floh mit
ihren Eltern zurück in die Trümmerwüste von Köln. Ein Name und
eine Stadt - mehr blieb vorerst nicht als Familienwurzel übrig für
den Säugling, der ein Jahr später in einem Kriegswaisenhaus im
Schwarzwald landete. Kurz vor dem Hungertod entdeckte ihn dort die
Wein- und Schnapshändlerfamilie Meyer, nahm ihn erst als Pflegekind
auf, und bei Schuleintritt adoptierten sie ihn, ohne Einverständnis
der leiblichen Mutter. Erst mit 18 Jahren erfuhr er von ihrer
Existenz, machte sich auf die Suche nach ihr, scheiterte jedoch.
Zu
der Zeit hatte er seinen bewegten Lebensweg schon aufgenommen. „Ich
war kein guter Schüler“, gibt er freimütig zu, also kam er bei
einem Buchbinder in die Lehre. Ein Glücksfall, denn auf diese Weise
entdeckte er die Welt der Bücher, die Liebe zur Literatur. An das
legendäre Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“ des deutschen
Journalisten Kurt Wilhelm Marek alias C.W. Ceram erinnert er sich
besonders gut, immerhin war das Binden einer alten Ausgabe sein
Gesellenstück. Die Arbeit machte ihm Spaß, aber sie brachte leider
kein Geld. „Alle meine Freunde besaßen schon ein Motorrad, nur ich
nicht“, stellte er eines Tages fest und drückte daraufhin erneut
die Schulbank, diesmal auf einem Aufbaugymnasium in Konstanz. Wieder
eine prägende Zeit. „Ich fühle mich immer noch als halber
Seehase“, schmunzelt er heute. Logisch, denn verbrachte eine
geraume Zeit am Bodensee, volontierte beim Südkurier, heiratete dort
zum ersten Mal.
Aber
schon ging es weiter, nach München, zum Studium der Kunsterziehung.
Und das während der „wilden 68er“! Die hinterließen auch in
seinem Werdegang Spuren: Mitgliedschaft im SDS, Zugang zur
Kulturszene der damaligen Jungen Wilden, über die er für
Süddeutsche Zeitung, Donaukurier und Augsbuger Allgemeine Zeitung
exklusive Rezensionen verfasste. Das wiederum band ihn noch enger an
Künstler wie Michael Krüger, Arnulf Rainer, Achternbusch oder dem
Filmemacher Erwin Leiser.
Doch genügte dem hungrigen Geist die Einseitigkeit nicht, er ging nach Münster und studierte Politikwissenschaft. Erst danach ließ er sich als Kulturredakteur und Mitglied der Chefredaktion beim Donaukurier in Ingolstadt fest anstellen - für wenige Jahre nur, dann zog es ihn weiter hinaus in die Welt: ein zweijähriges Stipendiat führte ihn ans Museo Arte Moderno nach Mexiko. Der Weg in die Kunstwelt war damit klar, und ab 1978 beriet er das Haus Preußen beim Ankauf moderner Kunst der 60er und 70er Jahre, auch an der Gestaltung der Documenta 5 war er mit beteiligt.
Und
nun kommt Baden-Baden ins Spiel, genauer gesagt der Anruf der
damaligen Leiterin der Bäder- und Kurverwaltung, was 1988 in
Zusammenarbeit mit der schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia in
den ersten Kunstfilmwochen in Baden-Baden mündete und der Stadt
einen neuen Einwohner zuführte: Leon Meyer-Vogelfänger blieb in der
Stadt hängen, verlor sein Herz, heiratete zum zweiten Mal, wurde
Vater zweier Töchter.
Diese
neue Verantwortung für seine kleine Familie ließ ihn erkennen, es
nun an der Zeit war, Geld zu verdienen. Also wechselte er von der
Kunst in die Wirtschaft. Für die Wirtschaftswoche interviewte er die
großen Unternehmer des Landes, was ihn schnell weiterbrachte: Er
trat in die Geschäftsführung des Instituts für
Mittelstandsförderung und der Gesellschaft für
Betriebsklimauntersuchung in Münster bei, wurde Gründungsmitglied
einer Fortbildungsakademie zur Förderung der Partnerschaft in der
Wirtschaft. Themen, die ihn auch heute noch umtreiben.
Die
„Wende“ im Osten jedoch ließ ihn einen schmerzlichen, steinigen
Umweg nehmen, führte ihn nach Leipzig in intellektuelle Zirkel.
Alsbald organisierte er die ersten freien Wahlen in Sachsen Anhalt
und avancierte vorübergehend zum Kultusstaatsekretär in der
Staatskanzlei. Danach zog es ihn zurück in die Wirtschaft, als
Geschäftsführer der ARGE Geoprofil in Bitterfeld setzte er sich für
die Erhaltung von Zeitzeugen ein.
Dann
der Absturz: die Firma wurde aus politischen Gründen liquidiert und
Leon Meyer-Vogelfänger verlor sein ganzes Geld. Viel Geld. Sehr viel
Geld. Und es ging, wie oft in solchen Fällen, gleich noch tiefer
bergab: Scheidung. Und ja – auch zu viel Alkohol, wie er freimütig
einräumt.
„Alles
war weg“, sagt er rückblickend, und man merkt ihm an, wie tief die
Niederlage sitzt. „Ich habe oft gedacht, ich kann nicht mehr.“
Schneckenhaus.
Sozialhilfe. Einsamkeit, und immer noch Alkohol. Aber dieser Mann ist
nicht dafür geschaffen, im Tief sitzenzubleiben. Sein Netzwerk, das
er sich über all die Jahre aufgebaut hatte, war fest, es riss nicht.
Vor
allem die Kinder waren ihm eine große Hilfe, aber auch die Freunde
hielten zu ihm, stabilisierten ihn. Einfach war es nicht: Die
Lebensbilanz ist, wenn einem so etwas weit jenseits der 50 passiert,
verheerend.
Fünf
lange Jahre saß er unten. „Eine Katastrophe.“ Dann ging es
schleichend heraus aus dem Loch. Eine Familienaufstellung, zu der ihm
ein Freund geraten hatte, wurde zum Wendepunkt. „Irgendetwas stimmt
hier nicht“, merkte er, und er begab sich noch einmal auf die Suche
nach leiblichen Verwandten. In einer Telefonzelle mitten in Köln
suchte er den Namen Vogelfänger heraus, erklärte der Frau, die
abhob, wer er sei und wen er suche, bis die Frau ihn irgendwann
unterbrach und sagte: „Du bist mein Sohn!“ Stundenlang habe er
sodann am Rheinufer gesessen und geweint, erinnert er sich, und er
ist dankbar, dass auch seine Kinder tatsächlich noch ihre leibliche
Großmutter kennenlernen durften.
Seitdem
ist er wieder da und strickt weiter an Netzwerken, verknüpft, was
für ihn schon immer zusammengehört: Wirtschaft, Politik und Kunst.
„Es reicht nicht, wenn sich ein Unternehmen ein Bild ins
Vorstandsbüro hängt“, sagt er. Man müssen beginnen, voneinander
zu lernen, sich an die unterschiedlichen Sichtweisen herantasten und
sich voneinander inspirieren lassen.
Und
so hat er seine Träume wiedergefunden und arbeitet nun unermüdlich
an deren Verwirklichung: Er will einflussreiche Menschen aus
Wirtschaft und Politik mit Wissenschaftlern, Querdenkern und
Künstlern zusammenbringen, dafür hat er sich verschiedenen
Projekten angeschlossen, er plant Symposien – ach – es ist viel
zu viel, um alles aufzuschreiben, was dieser kluge Kopf vorhat und
umsetzt.
Er
ist beweglich, in jedem Sinne. Reist viel, nach Berlin hauptsächlich,
aber auch an den Bodensee oder per Bahn in die Pfalz, zu einer
Weinbruderschaft, bei der neuerdings Mitglied ist. Viel Zeit bringt
er also auf für seine „Herrengespräche“, wie er die Teilnahme
an den vielen Zirkeln nennt, in denen seine Meinung, sein Wissen und
sein Humor gefragt sind.
Warum macht er das, mit 70? Was treibt ihn an?
Als habe er auf diese Frage gewartet oder sie sich selbst schon oft gestellt, kommt die Antwort schlicht und wie eine Selbstverständlichkeit: "Ich will trotz meines desolaten Lebens meinen Kindern ein Vorbild sein."
Warum macht er das, mit 70? Was treibt ihn an?
Als habe er auf diese Frage gewartet oder sie sich selbst schon oft gestellt, kommt die Antwort schlicht und wie eine Selbstverständlichkeit: "Ich will trotz meines desolaten Lebens meinen Kindern ein Vorbild sein."
Und
die Entspannung?
Die
findet er beim Wandern, vielleicht bald wieder beim Fischen und ja,
auch ein Segeltörn darf es mal sein. „Es muss aber nicht mehr
unbedingt ein Sturm auf hoher See sein“, merkt er an - und das ist
gewiss doppelbödig zu verstehen.
Ein
ganz neues Steckenpferd ist ihm die Errichtung eines kleinen
Literaturcafés. Die Örtlichkeit war schnell gefunden, das winzige
Olivenhaus in der Kreuzstraße, in dem er regelmäßiger Gast ist und
wo er sich gern von der Wirtin Olivia Pallas bekochen lässt.
Nächsten
Samstag ist es wieder so weit, Zeit für eine neue Lesung mit
überarbeitetem Konzept. Diesmal hat er Otto Jägersberg gewinnen
können, eine kluge Wahl. Denn gibt es eine bessere Verbindung
zwischen zwei Polen seines Lebens – dem Schreiben und der Kunst?
Die Lesung findet am Samstag, 25. April, von 16 bis 18 Uhr statt.
Hier
das Programm:
Zur Person Otto Jägersberg:
Hier geht es zu meinem Beitrag über Olivia Pallas und ihr Olivenhaus => KLICK
Mehr Geschichten über Menschen in Baden-Baden finden Sie hier => KLICK