Sonntag, 25. Januar 2015

Begrüßungsgruppe



"You are welcome
in Baden-Baden"




Es ist kalt an diesem Montagmorgen kurz vor zehn Uhr. Fröstelnd stehen die "Neuen" mit hochgezogenen Schultern vor ihrer Unterkunft in der trostlosen Westlichen Industriestraße. Gleich geht es los, heute sollen sie offiziell Bewohner von Baden-Baden werden. Ein kleines Grüppchen der ehrenamtlichen "Begrüßungsgruppe" unter Führung von Rainer Boy fährt mit ihren Autos vor, man lädt für ein späteres Kaffeekränzchen mit den "Neuen" Taschen mit Thermoskannen, Keksen und Kuchen aus und schafft Platz für die Schützlinge, die man gleich im Auto mitnehmen wird aufs Amt.

Aber erst sind ein paar organisatorische Dinge abzuklären. Gleich, als wir das Haus betreten, merken wir den anderen Wind, der hier plötzlich weht. Die Gemeinschaftsküchen blinken und blitzen sauber und ordentlich, die Stimmung ist heiter. Seit zwei Wochen arbeitet die neue Sozialarbeiterin, Kathrin Warth, in den beiden Gebäudetrakten mit ihren 160 Bewohnern, und man spürt bereits ihre Handschrift, sieht, dass sie auf allen Seiten anerkannt ist, sowohl bei den Asylbewerbern als auch bei den Ehrenamtlichen. "Ich tue mein Bestes", sagt sie gut gelaunt.

Sieben junge Männer aus Gambia (für mehr Informationen über das Land hier der Link zu Wikipedia => KLICK) sollen heute zur Meldebehörde begleitet werden. So jedenfalls hieß es noch letzte Woche, als Rainer Boy über die Neuzugänge unterrichtet wurde und seine kleine Truppe mobilisierte.

Inzwischen ist die heutige Gruppe, die auf ihren ersten Behördengang in Baden-Baden wartet, auf elf Schutzsuchende angewachsen, weil einige beim letzten Termin noch nicht alle Unterlagen beisammen hatten. Es wird viel gelächelt, freundlich bis verlegen. Wir quetschen uns in die Autos, auch Kathrin Warth fährt mit. Einer unserer Fahrgäste fasst sich nach wenigen Metern ein Herz. "Hat das Auto vielleicht eine Heizung?", fragt er höflich und bläst sich in die Hände. Sofort läuft die Klimaanlage auf Hochtouren. Wie aufs Stichwort fallen ein paar Schneeflocken vom Himmel.

Im Amt die erste Begegnung mit der deutschen Gründlichkeit: Jeder ziehe eine Nummer! Und man macht es. Ohne zu murmeln, ohne zu fragen, ohne zu grinsen. Der Rest ist unspektakulär.

Man wird aufgerufen, zeigt sein ausweisähnliches Dokument vor, das man im Aufnahmelager in Karlsruhe bekommen hat. Die Daten werden erfasst, Stempel. Dann werden die amtlichen Bögen über den Schreibtisch geschoben. "Please read this and sign." Die Männer unterschreiben die deutschen Formulare "blind" und ohne zu zögern.

Asylbewerber werden im Einwohnermeldeamt wie jeder Neubürger Baden-Badens behandelt, lerne ich. Noch ein Stempel, eine amtliche Unterschrift, dann werden ein paar zusätzliche Papiere überreicht, unter anderem eine auf den Namen des Neubürgers ausgestellte persönliche Busfahrkarte, die ab dem Abstempeln eine Woche im gesamten KVV-Gebiet gilt, ebenso ein Gutschein für die Stadtbücherei. Kein Stadtplan. Keine Beschreibung des Ortes, in dem sie gelandet sind.

Die Fahrkarte ist der Hit für die jungen Männer. Ob die wohl bis Mannheim gilt, wollen sie wissen, und, fast noch wichtiger, wo eigentlicher dieser Schwarzwald liege, von dem sie schon gehört haben. Den würden sie ja gerne mal sehen! Wir Ehrenamtlichen sehen uns an. "Stadtplan besorgen" wird im Geiste notiert, aber das wird später nicht einfach sein, erfassen doch die üblichen in der Stadt kursierenden kostenlosen Pläne nur die Innenstadt, nicht aber den Bahnhof Oos oder schon gar nicht die hinter dem Bahndamm liegende westliche Industriestraße.

Im Amt geht es flott weiter: Nächste Station. Die Ausländerbehörde ein Stockwerk höher. Wieder Nummern ziehen. Die Gruppe ist angemeldet, deshalb geht auch hier alles schnell und freundlich über die Bühne. Es wird die Adresse in dem ausweisähnlichen Dokument - es ist eine Aufenthaltsgestattung, lerne ich - geändert, denn dort steht noch als Anschrift die Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe. Westliche Industriestraße 41, lautet die Adresse ab sofort. Aber das Dokument ist nur auf drei Monate befristet. Danach muss es auf dem Amt verlängert werden.

Bis zu diesem Termin, das wird gleich klar, wollen die jungen Männer Deutsch lernen, unbedingt, so schnell wie möglich.

Eine Stunde später sind wir zurück in der Westlichen Industriestraße. Gemeinsames Kaffeetrinken mit den Ehrenamtlichen. Es ist eine herzliche, fröhliche halbe Stunde im neuen Gemeinschaftsraum, der extra für sie aufgeschlossen wird. Tassen und Teller werden verteilt, der Kuchen, ein typisch deutscher Marmorkuchen von Rainer Boy selber ganz frisch gebacken, geht reißend weg.

Boy freut sich, das sieht man ihm an. Auf Englisch erklärt er der Runde, in welch einer schönen Stadt sie zufällig gelandet sind. Wobei dieser Teilaspekt für manche nebensächlich ist. "Alles, was ich wollte, war, es nach Deutschland zu schaffen. Hier bin ich. Das macht mich glücklich", formuliert es einer von ihnen auf Englisch. Beifälliges Murmeln und strahlendes Lächeln auf vielen Gesichtern bekräftigen diese Aussage.

Auch die optimale Nutzung des Bustickets wird noch einmal erklärt, ebenso, dass es nicht übertragbar ist und nur in Verbindung mit der Aufenthaltsgestattung gilt. Gespanntes Zuhören und zustimmendes Nicken in der Runde: Das haben alle verstanden.

Noch Fragen?

Ja! Ob und wo es denn Winterkleidung gibt, fragt einer, der noch keine warme Jacke hat und erbärmlich friert. Rainer Boy nennt die Anlaufstellen und verspricht, in den nächsten ein, zwei Tagen wiederzukommen. Bis dahin soll ein Begrüßungsschreiben für die Neuankömmlinge, auch in Englisch und Französisch übersetzt, fertig sein, und auf diesem Blatt sind alle nützlichen Adressen, von der Kleiderkammer, dem Diakonieladen und dem Tafelladen bis hin zur ärztlichen Sprechstunde in der Unterkunft vermerkt. Auch auf das 14tägig stattfindende Café Kontakt, die ehrenamtlichen Sprachkurse und die Sprechstunden des Arbeitskreises Asyl für alle Fragen des Asylverfahrens wird auf dem Blatt hingewiesen.

Noch eine Frage:

"Gibt es für uns eine Möglichkeit, unsere Berufe auszuüben? Wann können wir arbeiten?", will ein anderer wissen. Er sei ausgebildeter Elektriker, es gebe einen Klempner hier, und auch ein Fensterbauer meldet sich. Das ist der Moment, in dem die Sozialarbeiterin eingreift. "Die ersten drei Monate sollten Sie intensiv nutzen, um Deutsch zu lernen. Wenigstens ein paar Brocken, damit Sie sich verständlich machen können", schlägt Kathrin Warth vor, und wieder nicken alle eifrig und sehen sich suchend nach den Aushängen um, auf denen die Sprachkurse angekündigt sind. Die werden also auf weiterhin gut besucht sein.

Mehr Fragen gibt es fürs Erste nicht. Und wieder fällt auf, wie höflich und freundlich diese jungen Schutzsuchenden sind. Wie selbstverständlich räumen sie die Tassen weg, wischen den Tisch ab und bringen die Stühle unaufgefordert zurück. Dann stehen sie Spalier, geben allen Ehrenamtlichen die Hand und bedanken sich. Das gibt ein gutes Gefühl, auf allen Seiten.


 Rainer Boy

Ein voller Erfolg sei dieser Vormittag gewesen, freut sich Rainer Boy wenig später, als wir noch kurz zu einem kleinen Interview zusammenstehen.


Den ehemaligen, langjährigen Pfarrer aus Birkenfeld bei Pforzheim verschlug es nach der Pensionierung im August 2012 nach Baden-Baden. Nach einem Jahr des Eingewöhnens wollte er die Hände nicht länger in den Schoß legen und sah sich in der Stadtkirche nach einer ehrenamtlichen Beschäftigung um. Und schon saß er im Gründungsteam der Gruppe "Immergrün", in der sich Menschen über 62 Jahren, die nicht untätig bleiben wollen, zusammengefunden haben. (Hier geht es zur Webseite von Immergrün => KLICK)

Schon bei der ersten Zusammenkunft schlug Boy vor, sich in der Asylarbeit zu engagieren, falls noch jemand mitmachen würde. Sieben oder acht Anwesende meldeten sich spontan, inzwischen ist daraus die "Arbeitsgemeinschaft willkommen" mit mehr als 70 ehrenamtlichen Mitgliedern aller Konfessionen geworden, und mit der freien Zeit ist es weitgehend vorbei.

Warum startet man mit 66 noch einmal durch? Was treibt ihn an? "Rein christliche Motive", sagt Boy. "Ich führe so ein tolles Leben, da wollte ich ein bisschen zurückgeben." Als Pfarrer habe er sich um so viel anderes kümmern müssen, da sei einfach keine Zeit und kein Platz gewesen, sich für soziale Probleme so intensiv zu engagieren, wie er es gern gewollt hätte.

In der Studentenzeit sah das anders aus, da habe er sich in Wuppertal und Heidelberg in der Obdachlosenarbeit engagiert. Danach aber stand die Gemeindearbeit im Vordergrund. In besonders schöner Erinnerung ist ihm geblieben, wie er auf seiner ersten Pfarrstelle in Birkenfeld unter anderem auch für die Ortsranderholung von hundert Kindern, vier Wochen lang von morgens bis abends, zuständig gewesen war. "Das war schön", schwelgt er.

Sein Lebensweg ist ein gerader. Das Elternhaus war sehr kirchlich geprägt, aber ohne Frömmelei, wie er gleich einschränkt. Mit 14 Jahren, im Konfirmandenunterricht, kam noch ein "toller Pfarrer" dazu, und schon stand der Berufswunsch des Arztsohnes fest: Pfarrer wollte er werden, und nichts konnte sich ihm mehr in den Weg stellen, nicht einmal ein abfälliger Kommentar zu seiner allerersten Predigt in der Heimatgemeinde, als ihm ein Einheimischer den rechten Glauben absprechen wollte. "Das hat mich geärgert", gibt Boy zu, denn frömmelnder Pietismus, der da offenbar von ihm erwartet wurde, ist nicht sein Ding. Er steht mitten im Leben, freundlich, aber bestimmt. Ein Mann der leisen Töne, der aber nicht zu überhören ist.

So auch heute, als Kopf der "Begrüßungsgruppe" in Baden-Baden. Irgendwie ist es ihm nicht ganz wohl, als wir das Gebäude mit den Asylbewerbern heute verlassen. Das Haus ist nun voll belegt, die Arbeit der Gruppe, die die Neuankömmlinge seit August regelmäßig auf ihrem Gang zu den Ämtern begleitet hat, ist damit eigentlich erledigt.

Ist seine Mission wirklich beendet? Er blickt zurück und verzieht wehmütig das Gesicht. "Wäre schade, wenn ich sie nicht wiedersehen würde", meint er dann. Es wäre zu überlegen, etwas Zusätzliches anzubieten. Immerhin sitzen die jungen Männern mindestens die ersten drei Monate zwangsweise tatenlos in ihren Zimmern. Vielleicht kommt er also demnächt noch einmal im Café Kontakt vorbei, das sich vierzehntägig trifft. Vielleicht gibt er aber auch einen Anstoß, das Angebot an die Asylbewerber auszuweiten. "Freizeitbeschäftigung wäre gut", überlegt er laut. Musik vielleicht? Er selbst ist ja begeisterter Sänger in zwei Chören, auch greift er manchmal - viel zu selten eigentlich - zur Geige. vorstellen könnte er sich auch, die Begrüßungsgruppe als "Behörden-Engel" weiterzuführen, denn mit dem ersten Behörden-Kontakt ist es ja für die meisten Flüchtlinge nicht getan, und in Begleitung eines deutschen Helfers geht vielleicht manches etwas einfacher.

Aber erst einmal muss er seine Erfahrungen aus der Begrüßungs-Gruppe an die nächste Gruppe Freiwilliger weitergeben, Anfang Februar, wenn die ersten Asylbewerber ins Vincentiushaus eingezogen sind und wieder ein erster Gang zu den Ämtern ansteht. Zumindest beim ersten Mal will er den dortigen Ehrenamtlichen gern mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Die Arbeit wird ihm bestimmt nicht ausgehen. Und das ist gut so!




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Mehr Geschichten über Menschen in Baden-Baden finden Sie hier => KLICK

Wichtig:
Kleiderspenden bitte auf keinen Fall direkt vor Ort abgeben, sondern in den Kleiderkammern des Roten Kreuzes oder im Diakonieladen am Bonhoeffersaal in der Bertholdstraße. 
Hier der Link zur Kleiderkammer des Roten Kreuzes Baden-Baden mit Öffnungszeiten => KLICK
Hier der Link zum Diakonieladen in Baden-Baden, der auch z. B. Hausrat und Spielsachen annimmt => KLICK