Menschen in Baden-Baden, heute:
Victoria Tobostai
Ein heiterer, ruhiger Spätsommertag in
Steinbach. Man biegt von der Hauptstraße ab und landet in einer
Idylle. Es ist still hier, kein Verkehrslärm, auf der Straßenseite
gegenüber eine Obstbaumwiese. Ich gehe um das beschriebene helle
Haus herum. Ein Hof, links die Terrasse der Erdgeschosswohnung, vor
mir ein kleines separates Häuschen, das Atelier, wie ich gleich
lernen werde. Den Eingang säumen ganz besondere, liebevoll, aber
künstlerisch lässig bepflanzte Blumenkübel - typische Exponate der
Künstlerin, die ich heute besuche.
Fremde, dunkle Klänge umfangen mich,
als ich mich im Hof umsehe, aber ich habe keine Zeit, mich darüber
zu wundern, denn schon springt mir Victoria Tobostai entgegen, eine
fröhliche, moderne junge Frau, zierlich, quirlig, offener Blick.
Sensibel erspürt sie mein Zögern, als ich die offene Wohnhalle mit
dem großen Zeichenbrett und den vielen farbenfrohen
Keramik-Skulpturen betrete. Diese ungewöhnliche Musik im Hintergrund
– was ist das?
„Obertongesang“ (=> KLICK ), erklärt sie. „Er
stammt aus der heidnischen Kultur meiner Heimat und inspiriert mich
bei meiner Arbeit.
Voilà! Es hat keine Minute gedauert,
und schon sind wir genau bei meinem Thema gelandet.
Ich habe sie nämlich als Botschafterin
für „die Russen in Baden-Baden“ für meine heutige Geschichte
ausgewählt, und ich merke schon nach wenigen Augenblicken, dass ich
keine bessere Wahl hätte treffen können.
Heimat?, hake ich nach.
Und schon beginnt sie zu erzählen, von
ihrer Geburtsstadt Abakan (=> dazu der wikipedia-Eintrag: KLICK ), der Hauptstadt der Republik Chakassien (Wikipedia => KLICK ) im Süden
Sibiriens, wo die Sommer dank des
Kontinentalklimas sehr warm aber kurz, die Winter sehr kalt und
unendlich lang sind, Frühjahr und Herbst so gut wie nicht
stattfinden. Wo sich das archäologische Freiluft-Mekka Sibiriens
befindet, wo einst Schamanen die Weisheit der Urvölker sammelten und
weitergaben, bis die Sowjetzeit das alte Wissen und die weisen Männer
ausrottete. Jahrzehntelang wurde das Volk von seinen Wurzeln
getrennt, ein Verlust, den Victoria Tobostai nun auf ihre eigene
Weise verarbeitet.
Sie erzählt von der Taiga und der
Landschaft des Jenissei => Ein Beitrag von Phoenix:
, von Kurganen (das sind uralte
Hügelgräber), von Runen, Kulturmonumenten aus Stein – und vom
Heimweh, das sie immer wieder plagt. Ihre Familie lebt „drüben“,
ihre Kinder, heute 15 und 17, verbringen zweimal im Jahr ihre Ferien
dort, sie lieben Chakassien genauso wie sie selbst, mehr noch, „sie
sind verrückt nach Russland“.
Wenn sie selbst Heimaturlaub nimmt,
dann ist sie viel in der Natur zu finden, wo sie unter freiem Himmel
malt. Hier in Deutschland fühlte sie sich lange wie blockiert,
gesteht sie. Das änderte sich, seitdem sie ein eigenes Atelier hat,
das ihr neue Freiräume öffnet. „Inzwischen habe ich meinen
Frieden gefunden, und auch das Heimweh ist nicht mehr so stark.“
Zumal auch die Familie sie oft in Baden-Baden besucht.
Die 1971 geborene Tochter eines
Lehrerehepaares (der Vater unterrichtete unter anderem Ethik und
Philosophie, die Mutter unter anderem Deutsch) wollte ursprünglich
Reisewissenschaftlerin werden, wollte die Welt sehen, wollte
erkunden, wer und was auf dieser Erde lebt, Tiere, Pflanzen,
Menschen. Tiere zeichnen wurde schnell eine Leidenschaft, als sie
noch jung war. Biologie reizte sie außerdem. Bereits mit elf Jahren
kam sie auf eine Malschule in Abakan. Schnell erkannten hier die
Lehrer ihr Talent und redeten ihr die Biologie aus. Mit sechzehn
wechselte sie an die Kunstfachschule in Krasnojarsk, wo sie fünf
Jahre Design und danach fast ebenso lange Keramik studierte.
Warum Keramik?
„Als Keramiker fühlt man sich wie
ein Bildhauer und Maler zugleich“, sagt Victoria Tobostai. „Man
arbeitet mit Gebrauchsgegenständen, Skulpturen, Reliefs, Formen und
Farben. Die Vielseitigkeit erlaubt mir eine traditionelle, aber auch
eine innovative Sprache.“
Wo man hinsieht, trifft man in ihrem
Umfeld auf ihre Werke mit frühzeitlichen Symbolen. „Alles
Archaische gefällt mir. Es trägt Weisheit und hohe Ästhetik in
sich“, gibt sie mir mit. „Oft gehe ich auf eine Entdeckungsreise
in die südländische Antike.“ Das Malen mit Engobe
(Wikipedia-Erklärung => KLICK
) auf der Oberfläche figürlich modellierter Vasen gibt ihr das
Gefühl, mit alten Maltechniken in Berührung zu kommen.
Ihre Liebe zu Russland ist grenzenlos
und überall zu spüren. „Auch meine Bilder zeigen den Zauber der
weiten Landschaften und ihre unendlichen Schönheiten“, schwärmt
sie. „ich schöpfe meine Kraft und Inspiration aus der Schatzkammer
des Kulturerbes Russland“.
Unter dem freien Himmel der
grenzenlosen Steppe, Taiga und vor dem Panorama er mächtigen Gebirge
entstanden die Sagen und Mythen, die sie bildhauerisch und bildlich
verarbeitet.
Sie selbst legt sich auf keine
bestimmte Epoche fest, sondern arbeitet gern mit Motiven skythischen
Tierstils und modelliert Kultobjekte aus der Okunev-Periode (dazu Wikipedia: => KLICK
)
Wie kam sie nach Baden-Baden?
Ein typisches Beispiel für
Kulturaustausch. Der Vater gelangte über das Kultusministerium
seines Landes mit einem Orchester nach Baden-Baden, später öffnete
man als Gastfamilie das Haus für einen Schüleraustausch aus
Baden-Baden. Und schnell war für die aufstrebende Künstlerin noch
während ihres Studiums klar, dass sie selbst auch nach Deutschland
wollte. Ein Auslandsjahr in Stuttgart oder Karlsruhe schwebte ihr
vor, Deutsch war ja dank des Unterrichts ihrer Mutter kein Problem.
Es gab auch einen regen juristischen Austausch zwischen Abakan und
Baden, auf diesem Weg kam ihre Schwester nach Freiburg und
schließlich Victoria Tobostai als Au-Pair-Mädchen nach Baden-Baden.
Der Rest fügte sich schnell: Sie lernte ihren Ehemann kennen. Heute
sind ihre Kinder, ein Mädchen und ein Junge, bereits fünfzehn und
siebzehn Jahre alt, und gerade die Tochter macht ihr auf
künstlerischem Gebiet viel Freude.“Sie kann besser zeichnen als
ich“, lacht die stolze Mutter.
Wie lebt man als Russin in Steinbach?
Sie versteht die Frage nicht.
Hat sie außergewöhnliche Hobbys?
Immer noch ein fragender Blick. „Konzerte, früher Rennrad, heute
ein bisschen Joggen“, antwortet sie brav, aber man merkt ihr an,
dass sie nicht weiß, worauf ich hinaus will.
Zweiter Versuch: Was wird denn hier im
Haus gekocht? Russische Küche oder deutsche? Sie lacht. „Diese
Woche nur Japanisch.“ Die Tochter ist begeistert von dem Land, und
so habe man beschlossen, eine Woche japanisch zu essen, Gebrauch von
Essstäbchen inklusive.
Dritter Versuch: Aber der Freundeskreis
– der ist doch bestimmt russisch? Sie ist verblüfft. „Ich habe sehr viele deutsche Freunde.“ Und endlich dämmert ihr, worauf
ich hinaus will. Sie winkt ab. „Ich identifiziere mich nicht nur als
Russin. Ich bin kosmopolitisch geschult, wollte ja schon von klein
auf die ganze Welt sehen. Ich fühle mich kulturell in Deutschland
als Gast, als Botschafterin für die Kultur meines Volkes.“
Sie sieht sich aber immer nur als
Erzählerin, niemals als Akteurin dieser Volkskunde. Eindringlich hat
sie sich bereits als Schülerin und Studentin in diesen Themenkreis
eingelesen, hat Märchen studiert, den Erzählungen ihres Vaters
gelauscht, Bücher gekauft und in Bibliotheken geforscht.
Video von Phoenix über Südsibirien,
Republik Tuwa, Nachbarrepublik von Chakassien
Der Schamanismus mit seinen Wurzeln im
sibirischen Raum fasziniert sie, aber sie hat Respekt vor ihm.
Niemals würde sie versuchen, ihn zu praktizieren. Die Urkenntnisse
sind in Jahrzehnten der Sozialismus verloren gegangen, wurden von der
heutigen Generation abgeschnitten. „Unsere heutigen Schamanen haben
dieses tiefe Wissen nicht mehr, sie sind schwach, weil ihnen die
Vorfahren fehlen.“ - „Für mich ist das nur Teil unserer Kultur,
betont sie. Und ihr Gesicht verdüstert sich, als sie weiterspricht.
„Mit dem Spirituellen muss man vorsichtig sein. Man kann die Kraft
nicht beherrschen. Man könnte ein Tor öffnen und einen Gast
einlassen, von dem man gar nicht weiß, was er anrichten kann.“
Nein, sie bleibt lieber in der Rolle der Erzählerin. Und so lädt
sie mich nun ein, ihre Werke zu besichtigen. Überall sind sie
gegenwärtig. Auf dem Couchtisch, der Fensterbank, auf der Empore, an
der Wand, im Atelier.
Alles in ihrer Umgebung ist
gleichzeitig auch ihre Kunst.
Schnell wird klar, hier lebt und
arbeitet eine Künstlerin, die ihre Kunst ernst betreibt, nicht als
Hobby. Die nach oben strebt, den Durchbruch schaffen will.
„Ein Jahr habe ich noch“, seufzt
sie, „dann läuft die staatliche Unterstützung aus. Bis dahin muss
ich es in die Selbständigkeit geschafft haben.“ Sie arbeitet hart
dafür. Auf dem Computer sind noch die Ergebnisses des gestrigen
Foto-Shootings zu sehen, das sie für neue Werbeauftritte braucht. Im
Atelier stapeln sich Exponate, weitere entstehen im Haus. Fleißig
bestückt sie Ausstellungen, schickt Exponate an eine Galerie,
fertigt Auftragsarbeiten, die auch mal ganz abweichen können von
ihrem ursprünglichen Gedanken der sibirischen Mythologie. Erst
kürzlich hat sie Gartenskulpturen im eigenwilligen Stil des
Katalanen Gaudí (Wikipedia-Eintrag => KLICK ) gefertigt.
Wir sind in ihrem Atelierhaus
angelangt, um das ich sie sofort glühend beneide. Hier kann man
abgeschieden vom Alltag mit Haushalt und den zwei Kindern nach
Herzenslust künstlerisch arbeiten. Sie nickt. Seit 2009 hat sie
diese Werkstatt, mit großem und kleinem Brennofen, Spritzkabine,
Werktischen, Regalen für ihre unterschiedlichen und doch homogenen,
farbenfrohen Werke. Die Räume sind vollgestellt mit angefangenen und
fertigen Arbeiten, die auf begeisterte Abnehmer warten. Nicht
jedermanns Geschmack, kein "mainstream", aber authentisch, und sie hat einen
Abnehmerkreis dafür, der allerdings größer werden darf.
Auftragsarbeiten warten auf ihre Vollendung, auch ist sie regelmäßig
als Gastkünstlerin der Majolika in Karlsruhe gefragt.
Fürs Foto setzt sie sich an ein
künftiges Lichtobjekt, eine Gans, die bald genau so kräftige Farben
tragen wird wie alle anderen Kunstgegenstände hier.
Was hat es denn nur mit all den
Tierfiguren auf sich? Wieder gibt es eine Exkursion in die
Mythologie: In der chakassischen Kultur, so lerne ich, spielt die
Verehrung der Tiere eine große Rolle. Die Ente, bei anderen
Turkvölkern der Wolf symbolisieren die Entstehung der Erde, sakrale
kosmische Tiere waren Steinböcke, Hirsche, Elche und Pferde.
Fliegende Hunde und Schlangen waren die Boten zwischen Himmel und
Erde, Fische standen für Eheglück und Wohlstand. Die Kraft des
Himmelsgottes Tengri wird durch ein Elchgeweih bekräftigt... Ich
höre und staune und hoffe, dass sich für diese Spezialisierung auf
eine so mystische Nische ein großes Publikum finden möge.
Victoria Tobostai hofft das natürlich
auch. Für September stellt man ihr am Baden-Airpark eine Vitrine zur
Verfügung, in der sie einige Objekte und die Fotografien ausstellen
wird, die gestern geschossen wurden.
Ich meine ja insgeheim, sie könnte,
wenn es nicht klappt mit der selbständigen Künstlerin auf jeden
Fall auch als Fotomodell durchgehen. Aber so etwas kommt für sie
nicht in Frage, auch wenn es finanziell (noch) nicht rosig aussieht
und sie neben dem befristeten Arbeitslosengeld auf Unterstützung
ihrer Familie angewiesen ist. Zwar hat sie auch schon mit dem
Gedanken gespielt, sich für Führungen im Burda-Museum zu bewerben,
oder Keramik-Kurse zu geben, doch – nein! Das würde sie von ihrem
künstlerischen Schaffen abbringen. „Einen anderen Job will ich
nicht!“ , sagte sie energisch. Sie holt tief Luft und strafft sich,
bevor es aus ihr herausbricht: „Ich will als Selbständige von
meiner Kunst leben können!“ Das ist ihr Lebensziel. Eine
Alternative gibt es nicht für sie.
Bei so viel Talent, Leidenschaft und
Fleiß sollte das doch zu schaffen sein! Viel Glück, Victoria
Tobostai!
Und hier ein Video von mir: Die Künstlerin erklärt ihre Arbeit.
Die Webseite der Künstlerin: http://www.victoria-tobostai.eu/
Gerne öffnet sie für Sie ihre Werkstatt.
Sie können sie erreichen unter
Tel. 07223 91 29 806
Sie können sie erreichen unter
Tel. 07223 91 29 806
oder 0176 84 031 967
oder art @ victoria-tobostai.eu (ohne Leerzeichen)
oder art @ victoria-tobostai.eu (ohne Leerzeichen)
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