Sonntag, 24. August 2014

Victoria Tobostai





Menschen in Baden-Baden, heute:

Victoria Tobostai








Ein heiterer, ruhiger Spätsommertag in Steinbach. Man biegt von der Hauptstraße ab und landet in einer Idylle. Es ist still hier, kein Verkehrslärm, auf der Straßenseite gegenüber eine Obstbaumwiese. Ich gehe um das beschriebene helle Haus herum. Ein Hof, links die Terrasse der Erdgeschosswohnung, vor mir ein kleines separates Häuschen, das Atelier, wie ich gleich lernen werde. Den Eingang säumen ganz besondere, liebevoll, aber künstlerisch lässig bepflanzte Blumenkübel - typische Exponate der Künstlerin, die ich heute besuche.




Fremde, dunkle Klänge umfangen mich, als ich mich im Hof umsehe, aber ich habe keine Zeit, mich darüber zu wundern, denn schon springt mir Victoria Tobostai entgegen, eine fröhliche, moderne junge Frau, zierlich, quirlig, offener Blick. Sensibel erspürt sie mein Zögern, als ich die offene Wohnhalle mit dem großen Zeichenbrett und den vielen farbenfrohen Keramik-Skulpturen betrete. Diese ungewöhnliche Musik im Hintergrund – was ist das?
„Obertongesang“ (=> KLICK ), erklärt sie. „Er stammt aus der heidnischen Kultur meiner Heimat und inspiriert mich bei meiner Arbeit.

Voilà! Es hat keine Minute gedauert, und schon sind wir genau bei meinem Thema gelandet.

Ich habe sie nämlich als Botschafterin für „die Russen in Baden-Baden“ für meine heutige Geschichte ausgewählt, und ich merke schon nach wenigen Augenblicken, dass ich keine bessere Wahl hätte treffen können.

Heimat?, hake ich nach.

Und schon beginnt sie zu erzählen, von ihrer Geburtsstadt Abakan (=> dazu der wikipedia-Eintrag: KLICK ), der Hauptstadt der Republik Chakassien (Wikipedia => KLICK ) im Süden Sibiriens, wo die Sommer dank des Kontinentalklimas sehr warm aber kurz, die Winter sehr kalt und unendlich lang sind, Frühjahr und Herbst so gut wie nicht stattfinden. Wo sich das archäologische Freiluft-Mekka Sibiriens befindet, wo einst Schamanen die Weisheit der Urvölker sammelten und weitergaben, bis die Sowjetzeit das alte Wissen und die weisen Männer ausrottete. Jahrzehntelang wurde das Volk von seinen Wurzeln getrennt, ein Verlust, den Victoria Tobostai nun auf ihre eigene Weise verarbeitet.

Sie erzählt von der Taiga und der Landschaft des Jenissei => Ein Beitrag von Phoenix:



, von Kurganen (das sind uralte Hügelgräber), von Runen, Kulturmonumenten aus Stein – und vom Heimweh, das sie immer wieder plagt. Ihre Familie lebt „drüben“, ihre Kinder, heute 15 und 17, verbringen zweimal im Jahr ihre Ferien dort, sie lieben Chakassien genauso wie sie selbst, mehr noch, „sie sind verrückt nach Russland“.

Wenn sie selbst Heimaturlaub nimmt, dann ist sie viel in der Natur zu finden, wo sie unter freiem Himmel malt. Hier in Deutschland fühlte sie sich lange wie blockiert, gesteht sie. Das änderte sich, seitdem sie ein eigenes Atelier hat, das ihr neue Freiräume öffnet. „Inzwischen habe ich meinen Frieden gefunden, und auch das Heimweh ist nicht mehr so stark.“ Zumal auch die Familie sie oft in Baden-Baden besucht.

Die 1971 geborene Tochter eines Lehrerehepaares (der Vater unterrichtete unter anderem Ethik und Philosophie, die Mutter unter anderem Deutsch) wollte ursprünglich Reisewissenschaftlerin werden, wollte die Welt sehen, wollte erkunden, wer und was auf dieser Erde lebt, Tiere, Pflanzen, Menschen. Tiere zeichnen wurde schnell eine Leidenschaft, als sie noch jung war. Biologie reizte sie außerdem. Bereits mit elf Jahren kam sie auf eine Malschule in Abakan. Schnell erkannten hier die Lehrer ihr Talent und redeten ihr die Biologie aus. Mit sechzehn wechselte sie an die Kunstfachschule in Krasnojarsk, wo sie fünf Jahre Design und danach fast ebenso lange Keramik studierte.

Warum Keramik?

„Als Keramiker fühlt man sich wie ein Bildhauer und Maler zugleich“, sagt Victoria Tobostai. „Man arbeitet mit Gebrauchsgegenständen, Skulpturen, Reliefs, Formen und Farben. Die Vielseitigkeit erlaubt mir eine traditionelle, aber auch eine innovative Sprache.“

Wo man hinsieht, trifft man in ihrem Umfeld auf ihre Werke mit frühzeitlichen Symbolen. „Alles Archaische gefällt mir. Es trägt Weisheit und hohe Ästhetik in sich“, gibt sie mir mit. „Oft gehe ich auf eine Entdeckungsreise in die südländische Antike.“ Das Malen mit Engobe (Wikipedia-Erklärung => KLICK ) auf der Oberfläche figürlich modellierter Vasen gibt ihr das Gefühl, mit alten Maltechniken in Berührung zu kommen.






Ihre Liebe zu Russland ist grenzenlos und überall zu spüren. „Auch meine Bilder zeigen den Zauber der weiten Landschaften und ihre unendlichen Schönheiten“, schwärmt sie. „ich schöpfe meine Kraft und Inspiration aus der Schatzkammer des Kulturerbes Russland“.






Unter dem freien Himmel der grenzenlosen Steppe, Taiga und vor dem Panorama er mächtigen Gebirge entstanden die Sagen und Mythen, die sie bildhauerisch und bildlich verarbeitet.
Sie selbst legt sich auf keine bestimmte Epoche fest, sondern arbeitet gern mit Motiven skythischen Tierstils und modelliert Kultobjekte aus der Okunev-Periode (dazu Wikipedia: => KLICK )

Wie kam sie nach Baden-Baden?

Ein typisches Beispiel für Kulturaustausch. Der Vater gelangte über das Kultusministerium seines Landes mit einem Orchester nach Baden-Baden, später öffnete man als Gastfamilie das Haus für einen Schüleraustausch aus Baden-Baden. Und schnell war für die aufstrebende Künstlerin noch während ihres Studiums klar, dass sie selbst auch nach Deutschland wollte. Ein Auslandsjahr in Stuttgart oder Karlsruhe schwebte ihr vor, Deutsch war ja dank des Unterrichts ihrer Mutter kein Problem. Es gab auch einen regen juristischen Austausch zwischen Abakan und Baden, auf diesem Weg kam ihre Schwester nach Freiburg und schließlich Victoria Tobostai als Au-Pair-Mädchen nach Baden-Baden. Der Rest fügte sich schnell: Sie lernte ihren Ehemann kennen. Heute sind ihre Kinder, ein Mädchen und ein Junge, bereits fünfzehn und siebzehn Jahre alt, und gerade die Tochter macht ihr auf künstlerischem Gebiet viel Freude.“Sie kann besser zeichnen als ich“, lacht die stolze Mutter.




Wie lebt man als Russin in Steinbach?

Sie versteht die Frage nicht.

Hat sie außergewöhnliche Hobbys? Immer noch ein fragender Blick. „Konzerte, früher Rennrad, heute ein bisschen Joggen“, antwortet sie brav, aber man merkt ihr an, dass sie nicht weiß, worauf ich hinaus will.

Zweiter Versuch: Was wird denn hier im Haus gekocht? Russische Küche oder deutsche? Sie lacht. „Diese Woche nur Japanisch.“ Die Tochter ist begeistert von dem Land, und so habe man beschlossen, eine Woche japanisch zu essen, Gebrauch von Essstäbchen inklusive.

Dritter Versuch: Aber der Freundeskreis – der ist doch bestimmt russisch? Sie ist verblüfft. „Ich habe sehr viele deutsche Freunde.“ Und endlich dämmert ihr, worauf ich hinaus will. Sie winkt ab. „Ich identifiziere mich nicht nur als Russin. Ich bin kosmopolitisch geschult, wollte ja schon von klein auf die ganze Welt sehen. Ich fühle mich kulturell in Deutschland als Gast, als Botschafterin für die Kultur meines Volkes.“

Sie sieht sich aber immer nur als Erzählerin, niemals als Akteurin dieser Volkskunde. Eindringlich hat sie sich bereits als Schülerin und Studentin in diesen Themenkreis eingelesen, hat Märchen studiert, den Erzählungen ihres Vaters gelauscht, Bücher gekauft und in Bibliotheken geforscht.

Video von Phoenix über Südsibirien, Republik Tuwa, Nachbarrepublik von Chakassien 





Der Schamanismus mit seinen Wurzeln im sibirischen Raum fasziniert sie, aber sie hat Respekt vor ihm. Niemals würde sie versuchen, ihn zu praktizieren. Die Urkenntnisse sind in Jahrzehnten der Sozialismus verloren gegangen, wurden von der heutigen Generation abgeschnitten. „Unsere heutigen Schamanen haben dieses tiefe Wissen nicht mehr, sie sind schwach, weil ihnen die Vorfahren fehlen.“ - „Für mich ist das nur Teil unserer Kultur, betont sie. Und ihr Gesicht verdüstert sich, als sie weiterspricht. „Mit dem Spirituellen muss man vorsichtig sein. Man kann die Kraft nicht beherrschen. Man könnte ein Tor öffnen und einen Gast einlassen, von dem man gar nicht weiß, was er anrichten kann.“ Nein, sie bleibt lieber in der Rolle der Erzählerin. Und so lädt sie mich nun ein, ihre Werke zu besichtigen. Überall sind sie gegenwärtig. Auf dem Couchtisch, der Fensterbank, auf der Empore, an der Wand, im Atelier.

Alles in ihrer Umgebung ist gleichzeitig auch ihre Kunst.








Schnell wird klar, hier lebt und arbeitet eine Künstlerin, die ihre Kunst ernst betreibt, nicht als Hobby. Die nach oben strebt, den Durchbruch schaffen will.

„Ein Jahr habe ich noch“, seufzt sie, „dann läuft die staatliche Unterstützung aus. Bis dahin muss ich es in die Selbständigkeit geschafft haben.“ Sie arbeitet hart dafür. Auf dem Computer sind noch die Ergebnisses des gestrigen Foto-Shootings zu sehen, das sie für neue Werbeauftritte braucht. Im Atelier stapeln sich Exponate, weitere entstehen im Haus. Fleißig bestückt sie Ausstellungen, schickt Exponate an eine Galerie, fertigt Auftragsarbeiten, die auch mal ganz abweichen können von ihrem ursprünglichen Gedanken der sibirischen Mythologie. Erst kürzlich hat sie Gartenskulpturen im eigenwilligen Stil des Katalanen Gaudí (Wikipedia-Eintrag => KLICK ) gefertigt. 














Wir sind in ihrem Atelierhaus angelangt, um das ich sie sofort glühend beneide. Hier kann man abgeschieden vom Alltag mit Haushalt und den zwei Kindern nach Herzenslust künstlerisch arbeiten. Sie nickt. Seit 2009 hat sie diese Werkstatt, mit großem und kleinem Brennofen, Spritzkabine, Werktischen, Regalen für ihre unterschiedlichen und doch homogenen, farbenfrohen Werke. Die Räume sind vollgestellt mit angefangenen und fertigen Arbeiten, die auf begeisterte Abnehmer warten. Nicht jedermanns Geschmack, kein "mainstream", aber authentisch, und sie hat einen Abnehmerkreis dafür, der allerdings größer werden darf. Auftragsarbeiten warten auf ihre Vollendung, auch ist sie regelmäßig als Gastkünstlerin der Majolika in Karlsruhe gefragt.

Fürs Foto setzt sie sich an ein künftiges Lichtobjekt, eine Gans, die bald genau so kräftige Farben tragen wird wie alle anderen Kunstgegenstände hier.



Was hat es denn nur mit all den Tierfiguren auf sich? Wieder gibt es eine Exkursion in die Mythologie: In der chakassischen Kultur, so lerne ich, spielt die Verehrung der Tiere eine große Rolle. Die Ente, bei anderen Turkvölkern der Wolf symbolisieren die Entstehung der Erde, sakrale kosmische Tiere waren Steinböcke, Hirsche, Elche und Pferde. Fliegende Hunde und Schlangen waren die Boten zwischen Himmel und Erde, Fische standen für Eheglück und Wohlstand. Die Kraft des Himmelsgottes Tengri wird durch ein Elchgeweih bekräftigt... Ich höre und staune und hoffe, dass sich für diese Spezialisierung auf eine so mystische Nische ein großes Publikum finden möge.

Victoria Tobostai hofft das natürlich auch. Für September stellt man ihr am Baden-Airpark eine Vitrine zur Verfügung, in der sie einige Objekte und die Fotografien ausstellen wird, die gestern geschossen wurden.






Ich meine ja insgeheim, sie könnte, wenn es nicht klappt mit der selbständigen Künstlerin auf jeden Fall auch als Fotomodell durchgehen. Aber so etwas kommt für sie nicht in Frage, auch wenn es finanziell (noch) nicht rosig aussieht und sie neben dem befristeten Arbeitslosengeld auf Unterstützung ihrer Familie angewiesen ist. Zwar hat sie auch schon mit dem Gedanken gespielt, sich für Führungen im Burda-Museum zu bewerben, oder Keramik-Kurse zu geben, doch – nein! Das würde sie von ihrem künstlerischen Schaffen abbringen. „Einen anderen Job will ich nicht!“ , sagte sie energisch. Sie holt tief Luft und strafft sich, bevor es aus ihr herausbricht: „Ich will als Selbständige von meiner Kunst leben können!“ Das ist ihr Lebensziel. Eine Alternative gibt es nicht für sie.

Bei so viel Talent, Leidenschaft und Fleiß sollte das doch zu schaffen sein! Viel Glück, Victoria Tobostai! 


Und hier ein Video von mir: Die Künstlerin erklärt ihre Arbeit.





Die Webseite der Künstlerin: http://www.victoria-tobostai.eu/

Gerne öffnet sie für Sie ihre Werkstatt.
Sie können sie erreichen unter
Tel.  07223 91 29 806
oder 0176 84 031 967
oder art @ victoria-tobostai.eu (ohne Leerzeichen)



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