Sonntag, 13. Juli 2014

Murat Batmaz


 

Menschen in Baden-Baden - heute:

Murat Batmaz

 
3:45 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich bin zwar am Abend früh schlafen gegangen, aber diese Uhrzeit ist schon sehr ... gewöhnungsbedürftig. Gähnend mache ich mich auf den Weg durch das verschlafene Baden-Baden. Kaum stehe ich, misstrauisch beäugt von einer langsam vorbeifahrenden Polizeistreife, wie verabredet am Leopoldsplatz, kommt Murat Batmaz, mein heutiger Gesprächspartner, auch schon mit seinem dunkelblauen Lieferwagen angebraust.



Auch heute morgen bleibt er die Ruhe selbst, trotz der Hiobsbotschaften, die auf uns einprasseln.
Der Tank ist fast leer, aber es gibt an der einzigen Tankstelle, die um die Uhrzeit in Baden-Baden geöffnet hat, gerade keinen Diesel. Er fährt trotzdem noch mal vorbei. Es hängen die gleichen Schilder wie am Abend zuvor an den Zapfsäulen. "Defekt, defekt, defekt."
Murat Batmaz schimpft nicht, er seufzt nur leise. "Schauen wir, ob wir es bis Karlsruhe schaffen." So früh am Morgen gibt es auf dem Weg keine Alternative.
Karlsruhe, der Großmarkt ist unser Ziel. Jeden Morgen braust er mit leerem Transporter hin, mit vollem zurück. Er besorgt nicht nur für sein eigenes Geschäft frische Ware, sondern auch für rund ein Dutzend gastronomische Betriebe in der Stadt. Die bestellen bei ihm in der Regel bis Mitternacht per Fax, manchmal auch telefonisch.
Auf der um diese frühe Uhrzeit schon erstaunlich vollen Autobahn, bei ersten Telefonaten mit den Händlern in Karlsruhe, die nächste böse Überraschung. Es gibt weder die besonders knackigen Kirschen, noch die besonders schmackhaften Erdbeeren, die er ordern wollte. Jedenfalls keine, die seinen Ansprüchen genügen würden. Und die sind hoch, wie ich mich gleich selbst überzeugen kann. Noch schlimmer aber: "Keine sechser Ananas." Das wird uns für den Rest des Morgens begleiten.

Jagd nach der "sechser Ananas"


Immerhin: Es gibt heute eine spezielle Melonenart, verrät ihm ein Händler. Murat Batmaz' Miene hellt sich auf. "Gut. Auf die warte ich schon eine Woche. Stell mir drei Kisten weg, ich bin gleich da."
Montag und Dienstag ist Flug-Waren-Tag, lerne ich. Montags kommt das Obst aus Süd- und Mittelamerika, dienstags aus Thailand. Da muss man schnell sein und vorbestellen.
Bei all der Hektik, die sich anbahnt, bleibt er so freundlich und ruhig, wie man ihn tagein, tagaus aus seinem Laden kennt. Man merkt ihm nicht an, dass er heute noch gar nicht im Bett war. "Sonntag auf Montag mache ich immer durch", erklärt er und will gar nicht richtig zu verstehen, was daran so außergewöhnlich sein soll.
 Wie ist denn sein Sonntag verlaufen?, will ich wissen. "Ausgeschlafen, mit den Kindern Zeit verbracht, und dann Formel eins geguckt." Um 17 Uhr ging es ins Geschäft, um halb zwei Uhr morgens kurzer Stopp zu Hause, Bestellungen durchsehen, Lieferscheine schreiben, Listen vervollständigen. Dann schnell duschen, rasieren und los. Andere Tage sind geruhsamer, da kommt der Vater von drei Kindern "schon" zwischen 20 und 21 Uhr nach Hause. Das muss reichen für Kontakt mit den Kindern, Abendessen und maximal fünf Stunden Schlaf. Urlaub oder Krankheit gibt es nicht für ihn. "Ich bin immer hier", sagt er freundlich.
 Aus diesem Grund habe ich ihn mir für diese Menschen-Geschichte ausgewählt. Die Idee kam mir einmal nachts, als ich von einer Veranstaltung auf dem Heimweg war und er gerade seinen Laden abschloss und mir, bei all seiner Müdigkeit noch anbot, mich nach Hause zu fahren. Seit Jahren bewundere ich, mit welchem Fleiß und welch gleichbleibender besonnener Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft er sein Obst- und Gemüsegeschäft "ADL" am Leopoldsplatz in der Passage tief hinten zwischen einer Metzgerei und einer Bäckerei führt.


ADL - komischer Name. Ich ziehe die Nase kraus, und er lacht. "Stimmt. Man kann es sich vielleicht so merken: Abkürzung für 'Alles deutsche Lebensmittel'." Aber es kommt in Wahrheit aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie Ausgewogenheit. "Ich sollte den Namen wirklich ändern", seufzt er. Irgendetwas mit Aurelia schwebt ihm vage vor, denn wo heute sein gut florierendes Geschäft ist, lag früher das Aurelia-Kino.
Dass er mal hier landen würde, hätte sich der heute 40jährige auch nicht träumen lassen.
Zwölfeinhalb war er, als er 1986 nach Stuttgart kam, herausgerissen aus einer Jugend auf dem Land im Südosten der Türkei.
Wie war das - aus der vertrauten Welt in ein völlig fremde Kultur katapultiert zu werden?
Er verzieht das Gesicht, während er mit mir über die Autobahn rast. "Ich hatte gemischte Gefühle", gibt er zu. "Große Freude auf ein anderes Land, das so viel fortschrittlicher war als das meine. Alles ist möglich, war die Devise. Andererseits war da die fremde Sprache." Und ohne Sprache kommt man nicht weit, das erkannte der kleine Murat schnell.

Es gibt kein Zurück


 Es war ein Neuanfang in allen Bereichen. Er kam in die Schule, konnte aber dem Unterricht außer in Musik, Mathematik und Sport nicht folgen. Wo andere resignieren, wurde er angestachelt. Der obligatorische Deutschkurs war Ehrensache, zusätzlich versuchte er, in der Freizeit so viel wie möglich auf Deutsch zu lesen. "Für mich war schon damals eines klar", betont er: "Wir lassen alles Alte zurück und gehen in etwas Neues hinein. Es gibt kein Zurück."
Er sei selber überrascht gewesen, wie schnell ihm das Erlernen der schwierigen Sprache gelang. Zwei deutsche Freunde halfen, ebenso die stillschweigende Übereinkunft mit dem anderen türkischen Mitschüler in der Klasse, sich ausschließlich auf Deutsch zu verständigen.
Heute hört man ihm kaum mehr an, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist. Auch die Kinder werden in diesem Sinne erzogen, sie sprechen Deutsch und Türkisch, haben auch vermehrt Interesse an einer dritten, der Familiensprache, dem Kurdisch. Und auf diese Weise erfahre ich also nebenbei dass "der Türke am Leo", wie ihn ja viele titulieren, in Wahrheit ein Kurde ist.
Über seine Religion reden wir nur am Rande, die ist ja bei meinen anderen Gesprächspartnern auch nie ein Thema. Nur fällt eben auf, dass es im "ADL" keine Produkte aus Schweinefleisch und keinen Alkohol zu kaufen gibt. Freundlich und verbindlich, wie er ist, schwächt Murat Batmaz ab: "Naja, wenn in der Dose Bohneneintopf Speck drin ist, kommt sie trotzdem ins Regal. Und Pralinen mit Alkohol verkaufe ich auch."
Kommen wir zurück zu seinem Werdegang. Wollte er immer schon Obst- und Gemüsehändler werden? Familientradition, wie man sich das vielleicht romantisch vorstellt? Ganz klares Nein. Er wäre gern Kfz- oder Industrie-Mechaniker geworden, aber er nahm nach dem guten Hauptschulabschluss ("mehr war mit meinen Deutschkenntnissen nicht drin"), was er kriegen konnte. Ein Praktikum als Industriebuchbinder bot sich an, er griff zu, arbeitete sich schnell hoch: Lehre, guter Abschluss, Buchbinder, Maschinenführer, Schichtführer, stellvertretender Meister, Meisterkurs, Meister. So hätte es bleiben oder weitergehen können, doch dann brauchte sein Bruder, der in einen Obst- und Gemüsehandel in Baden-Baden investiert hatte, seine Hilfe.
Murat Batmaz zögerte nicht, stellte sich der Herausforderung und eignete sich, wie es sein Wesen ist, systematisch und akribisch alles Wissen an, das für diese Branche notwendig war. Probieren UND studieren war sein Motto. Drei Jahre später machte er sich mit dem eigenen Geschäft am Leopoldsplatz selbständig. Heute macht ihm in Sachen Qualität von Obst und Gemüse niemand etwas vor. Mit einem Blick kann er Qualität einschätzen, und die hat bei ihm höchste Priorität.


Wir sind inzwischen am Großmarkt angelangt. Er wird wie ein Freund, nein, wie eine Respektsperson begrüßt. Sein Umgang mit Obst ist professionell. Ein Blick, ein Griff, und er weiß Bescheid. Während Erzeuger auf Bauernmärkten ihre selbst gezogenen Produkte vorsichtig und liebevoll hochnehmen und regelrecht streicheln, bevor sie sie aus der Hand geben, reicht ihm ein prüfender Blick, ein kurzer Griff in die Kiste, und er weiß, ob sich die Ware gut verkaufen lässt.
Seine Kunden schätzen das. Viele Stammkunden hat er neben den Abnehmern aus der Gastronomie, ebenso Laufkundschaft, jung und alt, aus allen Nationen, Nachbarn und Touristen, und er liebt den Umgang mit ihnen. Mit vielen ist er per Du, einige kaufen bei ihm für ein paar tausend Euro Kaviar, anderen leiht er auch schon mal Geld, wenn sie ihr Portemonnaie vergessen haben. Er lacht gutmütig, als die Sprache darauf kommt: "Denen gebe ich 50 Euro und was machen sie damit? Kaufen in anderen Geschäften ihre Lebensmittel."

Ich habe ihn kurz vor unserer Großmarkttour im Laden besucht. Während er mit mir redet, schneidet er Obst klein und hat alles im Blick. Es ist ein stetes Kommen und Gehen in seinem Laden. "Herr Jäger, der bessere Knoblauch ist im Regal über Ihnen", ruft er schnell nach hinten, wo sich ein älterer Herr suchend über die Regale beugt. Gekonnt packt er währenddessen der nächsten Kundin die Lebensmittel in eine Plastiktüte und sieht ihr aufmerksam zu, wie sie alles umständlich verstaut. "Brauchen Sie Hilfe?", bietet er freundlich an, drängt aber auch nicht weiter auf, als er ein kurzes Kopfschütteln erntet. Für viele ist er Vertrauensperson, für manche, so scheint es, einer der wenigen Gesprächspartner eines langen, einsamen Tages.

Allmählich wird der Himmel über dem Großmarkt hell. Wir klappern Halle für Halle ab.
"Manche haben nur ein, oder zwei Händler, bei denen sie ihre Ware beziehen. Aber da macht man sich leicht abhängig", lerne ich. Murat Batmaz kennt das Geschäft, und vor allem, er kennt seine Leute. Zielstrebig fährt er die einzelnen Händler an, begutachtet hier die Stangenbohnen ("Die hinten im Lager sind besser"), hebt dort Kiste um Kiste hoch, um die besten Salatköpfe zu finden. Butterkürbisse stehen schon bereit, die hat er bereits auf der Hinfahrt telefonisch angeboten bekommen. Und immer wieder die Frage nach den geheimnisvollen sechser Ananas. "Zu teuer", sagt der eine Händler, "Lieferengpass" der nächste.


 Ich wundere mich. Aber hier sind doch Ananas, wie gemalt! Batmaz wird einen abschätzigen Blick auf die Kiste. "Wenn Sie wollen, dann nehmen Sie sich gerne eine mit", sagt er freundlich und geht unbeeindruckt weiter zur nächsten Halle. Die handschriftliche Liste auf seinem Zettel ist lang, das Abfragen des Sortiments kurz: Nichts geht hier mehr ohne Computer, die geübten Finger der Händler fliegen über die Tasten, auch wenn die Computeranzeige oft nur bestätigt, was sie ohnehin im Kopf haben.
"Bio-Orangen?" Wieder zurückgeschickt, waren zu fleckig.
Ananas? Nur achter.
Irgendwann werde auch ich eingeweiht: Die Nummer bezieht auf die Anzahl Ananas in der Kiste. Je weniger, umso größer sind sie also. Und Murat Batmaz braucht die großen. Warum?
 Später, zurück im Geschäft, als er die Früchte routiniert der Länge nach teilt, schält, sie in mundgerechte Stücke schneidet und dann, verziert mit ein paar Beeren, für die Laufkundschaft in längliche Plastikschalen legt, ist alles klar: Länge der Ananas ist gleich Länge der Plastikschalen. Schön ordentlich sieht das aus, so wie Murat Batmaz es liebt. Und das Auge isst beziehungsweise kauft ja bekanntlich auch mit.
Zum Schluss geht alles schnell, in der vorletzten Halle findet Murat Batmaz seine Ananas. Teuer zwar, aber was soll's. Qualität und Größe stimmen. Er sucht zehn Kisten aus, dann mustert er den Stapel zweifelnd. "Noch mal zehn", entscheidet er, "aber die von der hinteren Reihe". Sein Wunsch wird klaglos erfüllt, auch wenn erst Kiste um Kiste aus der vorderen Reihe abgetragen werden muss. Er wartet nicht ab, bis alles bereit steht, sondern macht sich auf zur nächsten Halle. Wieder dasselbe Spiel...
Rund zwei Stunden später sind wir durch. Alle Bestellungen sind erledigt, jetzt wird die letzte Runde gedreht. Seine georderten Obst- und Gemüsekisten stehen nun säuberlich gestapelt bereit. Helfer, die sie ihm zum Wagen bringen, ebenso. Jeder Handgriff sitzt, Scherzworte fliegen hin und her, einer hilft dem anderen.

Beste Qualität


"Murat ist der beste und mit Abstand der Fleißigste hier", verrät mir ein Händler. "Der will immer nur beste Qualität, und die kriegt er auch."
Plötzlich großes Gelächter. "Gab es irgendwo ein Sonderangebot?", ruft einer der Männer und deutet auf die 20 Ananas-Kisten, die sich nun im Transporter stapeln. "Nein", ruft ein anderer lachend. "Ich glaube, heute gibt es in jedem Haushalt von Baden-Baden Ananas zum Nachtisch."
Murat lacht mit. Wir sind schon fast vom Hof, da stoppt er abrupt, springt aus dem Auto und rennt in eine fast leere Halle. Doch dann werden seine Schritte langsamer. "Ach schade", murmelt er. "Nur abgepackte Aldi-Ware. Von weitem sah es so aus, als seien es Erdbeerkisten." Die Jagd nach den ultimativen Erdbeeren muss also auf den nächsten Tag verschoben werden.
 Es gibt noch einen letzten Stopp am Großhandels-Supermarkt nebenan, in dem er sich mit "Trockenware" eindecken will. "Am Wochenende waren Asiaten in der Stadt", erklärt Murat Batmaz. "Die haben mir alle Schokolade aufgekauft, zehn, fünfzehn Stück auf einmal." Bis die regulär bestellte Nachlieferung am Mittwoch kommt, weil er nicht auf dem Trockenen sitzen. Ein ganzer Karton geht mit. Und noch zehn Kisten spezieller, kleinblättriger Rukola. Ein Gastronom aus Baden-Baden will genau den für seinen Salat, und er wird ihn bekommen.
Endlich ist Schluss. Akribisch geht er ein letztes Mal die Liste durch, dann ist er zufrieden und will gen Autobahn starten. Aber das Handy klingelt. Die nächste Hiobsbotschaft: In seinem Laden zeigt das Kühlregal einen Defekt an, teilt ihm sein Mitarbeiter mit. Nein, es fällt kein böses oder entnervtes Wort. "Gut, dass ich für alles eine Telefonnummer parat habe", sagt er nur und hat auch schon den zuständigen Techniker am Apparat, der sofort zu kommen verspricht.
Um halb neun erreichen wir den Leopoldsplatz. Müde rutsche ich vom Beifahrersitz und freue mich auf meinen Kaffee und ein Mützchen Schlaf. Für Murat Batmaz hingegen beginnt jetzt erst der Tag: Er schließt den Laden auf, räumt die Kisten aus dem Transporter, sortiert die Ware für seine Gastronomie-Kunden aus, räumt seine eigenen Regale ein und macht sich dann daran, die erste Ananas des Tages in mundgerechte Häppchen zu schneiden.




Und hier ist Murat Batmaz als "legaler Rogen-Dealer" in einem Spaßfilm von einPlus mit Pierre M. Krause zu sehen: => KLICK (oder aufs Bild unten klicken)





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