Sonntag, 7. Juni 2015

Ehepaar Azemi


Menschen in Baden-Baden, heute:
Das Ehepaar Azemi


Gestern Abend. Eine Sommernacht wie aus dem Bilderbuch. Es wird gefeiert in der ganzen Stadt: Frühjahrsmeeting, Winzertage, private Grillpartys und Open-Air-Konzerte. Die Lichtentaler Allee ist voll mit flanierenden Touristen und Einheimischen.

Und in der staatlichen Kunsthalle startet ein ungewöhnliches Programm: Public Viewing des Champion League Finales. Eingeladen sind alle Asylbewerber der Stadt, ihre ehrenamtlichen Helfer und natürlich auch alle anderen Fußballinteressierten. Immerhin rund 50 Zuschauer folgen der Einladung, obwohl sie nicht groß öffentlich publik gemacht worden war.




Eine halbe Stunde vor Spielbeginn füllt sich das Café, die ungewöhnlichen Gäste suchen sich einen guten Platz mit Sicht aufs an die Wand projizierte Geschehen, sie ordern Cola und Mineralwasser, bedienen sich gerne an den Tellern mit kleinen Knabbereien, die auf den Tischen verteilt sind, oder sie holen sich einen Teller Nudelsalat, der extra für sie kostenlos bereitsteht.

Kostenlos?

Skender und Hatixhe Azemi, die Pächter des Cafés, strahlen. „Vor 23 Jahren waren wir auch Asylbewerber.“ Sie haben es sich deshalb nicht nehmen lassen, ihr Café heute Abend zu öffnen, obwohl sie eigentlich andere Pläne gehabt haben. Immerhin hat ihr Sohn Drilon an diesem Abend Premiere am Theater gehabt, in „Blutjung“, einem Projekt des Jugendclubs U22. (Hier geht es zur Webseite für das Stück => KLICK )




Aber als feststand, dass in der Kunsthalle für Flüchtlinge ein „public viewing“ in Sachen Fußball veranstaltet würde, wurde gleich nach Besuch der Aufführung die Schürze wieder umgebunden. Den Nudelsalat und die Knabbereien gab es kostenlos, die Getränke wurde zu einem reduzierten Preis angeboten, damit sich die Asylbewerber die auch leisten konnten.

Das ist unser Dank an Deutschland. Unser Dank, dass wir heute unser Leben so leben können, wie wir es tun“, erklärt Skender Azemi bescheiden. Es ist ihm wichtig, dass ich das schreibe, denn seine Dankbarkeit kommt aus tiefem Herzen.

1992 kam der damals 28-Jährige aus dem Kosovo nach Deutschland. Sein Vater war Parlamentsabgeordneter gewesen, der die Unabhängigkeit des Kosovo deklariert hatte. (hierzu auch ein Link auf Wikipedia =>KLICK ) Später musste er deswegen untertauchen. Die Spannungen im Kosovo unter der Ära Milošević wurden unerträglich, täglich wurden Skender Azemi und seine Familie von der Polizei befragt, wo sich sein Vater befinde, was er von Zusammenkünften wisse. Das Gebiet wurde von Serbien besetzt, Kosovaner und Albaner wurden verfolgt...

Ich muss weg“, wurde dem gelernten Krankenpfleger schließlich klar. Buchstäblich mit dem letzten Zug reiste er mit seinem damals gerade noch gültigen jugoslawischen Pass über Bulgarien und Luxemburg nach Deutschland.

Was folgte, bezeichnet Skender Azemi als Lotteriespiel. Er wurde nach Karlsruhe gebracht und stellte seinen Asylantrag. Dann wurden er und viele Gleichgesinnte auf verschiedene Orte aufgeteilt. Nach welchen Regeln es wohin ging – das blieb undurchsichtig. Manche kamen nach Bühlertal, andere nach Dresden oder Leipzig, er aber – nach Baden-Baden. Seine Familie wunderte sich zunächst sehr, als er sie endlich telefonisch erreichte und erklären wollte, wo er gelandet war. „Warum sprichst du den Namen doppelt aus“, wurde er gefragt. Er lacht.

Von Anbeginn an, so schien es, hatte er – gemessen an den tragischen Umständen – einen Sechser gelandet. „Ich wollte nur drei Monate bleiben und dann wieder zurück, weil ich hoffte, die Situation in der Heimat würde besser werden“, erinnert er sich. Immer wieder verlängerte er diese Frist, immer wieder wurde auch seine Aufenthaltserlaubnis verlängert. Irgendwann holte er seine Freundin nach, um sie zu heiraten.

Jetzt mischt Hatixhe sich in unser Gespräch ein. „Andere Bräute werden mit einer weißen Pferdekutsche zur Hochzeit geholt, ich musste über die Grenze durch einen dunklen Wald schleichen“, erinnert sie sich amüsiert.

Und wie war es dann in Baden-Baden? Gefiel ihr die Stadt?

Vor lauter Tränen habe sie zunächst gar nichts von der Schönheit der Stadt mitbekommen, sagt sie. Die gelernte Krankenschwester wäre so gern in ihrer Heimat geblieben, sie hatte damals Chemie studiert, aber für Kosovo-Albaner wurden Schulen und Universitäten geschlossen, Substanzen, die für das Studium notwendig waren, wurden unter Verschluss genommen, die Bevölkerung wurde gezwungen, serbisch zu lernen und plötzlich kyrillische Schrift zu verwenden.

Aber so notwendig es in der sich eskalierenden Situation auch erschien, das heimatliche Pristina zu verlassen – es war eben doch die Heimat, und der trauerte sie nach. Noch dazu, als der Krieg in der Heimat ausbrach und eben auch um Pristina tobte, und sie oft außer sich war vor Sorge um die Verwandten. Und auch, weil sie in Baden-Baden erst einmal vollkommen alleine war.

Ihr Mann Skender hatte ja schnell eine Arbeit gefunden, ein bekannter Gastwirt hatte ihn aufgenommen, ihm nicht nur einen Job verschafft, obwohl er anfänglich nur „Ja“ und „Nein“ und „Bitte“ und „Danke“ sagen konnte, sondern ihm auch noch eine Wohnmöglichkeit gegeben und ihm Herz und Tür geöffnet. „Ich wusste, dass ich immer eine offene Tür finden würde, wenn es ein Problem gäbe.“

Seine junge Frau hingegen saß nun erst einmal mutterseelenallein in der Wohnung herum und weinte. Aber dann ging es auch für sie aufwärts: Als erstes begann sie verbissen Deutsch zu lernen.

Und wie?

Mit der Zeitung. Ich suchte eine Wohnung für uns, also musste ich erst mal alle Wörter lernen, die man dafür benötigt.“ Mit dem Wörterbuch suchte sie sich die Begriffe zusammen, trug sie in ein Heft, und hatte dieses Heft immer bei sich. Sie fand eine Stelle als Altenpflegehelferin im Theresienheim und lernte auf ihre Weise weiter, erweiterte den Wortschatz täglich. Jedes deutsche Wort, das sie aufschnappte, kam in das Vokabelheft. „Komm, komm, langsam“, waren ihre ersten Worte im Job. Sie steckte ihre Nase so eifrig in das immer dicker werdende Heft, dass sie im Bus zur Arbeit sogar einmal ihre Haltestelle verpasste und einen langen Weg zurücklaufen musste.

Und so hat sie heute, nach all ihren Erfahrungen, einen großen Traum: Den Traum von einer Krankenpflegeschule im Kosovo mit deutschen Lehrern, die den vielen, vielen angehenden Krankenschwestern vor Ort gleich Deutsch und deutsche Kultur beibringen könnten, damit sie vorbereitet sind, wenn sie herkommen und arbeiten und sich integrieren wollen. Angesichts des Pflegenotstands vielleicht keine schlecht Idee, findet sie.

Denn was für das Ehepaar Azemi galt, gilt auch heute noch für die meisten Menschen, die in Deutschland Asyl suchen: Sie wollen viel lieber ihr eigenes Geld verdienen als Leistungen geschenkt bekommen.

Und dann klappt das auch mit der Integration. So wie beim Ehepaar Azemi. Elf Jahre hat Skender Azemi für seinen ersten Arbeitgeber gearbeitet, dann hat er sich mit seiner Frau 2006 im Café in der Kunsthalle (hier geht es zur Webseite => KLICK) selbständig gemacht. Inzwischen ist die Trauer um die alte Heimat der Freude über die neue gewichen. Und ihre beiden Söhne, 18 und 20 Jahre alt und in Deutschland geboren, haben einen deutschen Pass, fühlen sich sowieso als Deutsche. Der eine studiert Motortechnik an der technischen Uni in Stuttgart, der jüngere möchte Arzt werden – wenn ihm nicht noch seine Leidenschaft zum Theater in die Quere kommt...

Seine Eltern nehmen es gelassen. Sie sehen stolz und glücklich aus. „Wir haben so ein Glück gehabt, wir haben tolle Freunde gefunden“, freuen sie sich. „Es ist das beste Gefühl, wenn man weiß, da ist ein Mensch, bei dem stehen für mich immer die Türen offen.“ Ein klein wenig davon haben sie gestern zurückgegeben, mit ihren offenen Türen im Café. 


 

Auch die Vertreter der Kunsthalle, die den Anstoß zu dem Event gaben, können zufrieden sein mit dem Abend.

Als „Ort der Begegnung“ wollte man auch Asylbewerbern ein niederschwelliges Angebot ohne Ansprüche und Erwartungen unterbreiten, erklärt die kuratorische Assistentin Nadia Heinsohn die Motive der Kunsthalle zu dieser Aktion. Natürlich werde kunstinteressierten Flüchtlingen gerne kleine Gruppenführungen auf Englisch durch die laufenden Ausstellungen angeboten, aber ebenso sind alle herzlich willkommen, wenn man einfach nur zusammensitzt und feiert – am 10. Juli wird es beispielsweise wieder soweit sein, wenn die neue Ausstellung mit einem öffentlichen Sommerfest eröffnet wird und es wieder heißen wird „You are welcome – Seid willkommen“.

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