Sonntag, 28. Dezember 2014

Sigrid Kampmann




Menschen in Baden-Baden, heute:

Sigrid Kampmann





Ein Dienstag im Dezember, morgens, 10.30 Uhr. Tristesse rund um das Asylbewerberheim in der Westlichen Industriestraße. Nieselregen, der Himmel wird nicht richtig hell. Das neue Gebäude, in fester Bauweise errichtet und in dunklem Gelb gestrichen, liegt ebenso öde da wie die zweistöckige, dazugehörige Containeranlage daneben. Viele Rollläden sind heruntergelassen. Die Lärmschutzwand zur B 3 neu wird ihrem Namen nicht gerecht, unaufhörlich und laut brausen Autos und Lastwagen vorbei, flankiert von ICEs und Güterzügen im Gleisbett dahinter.

Direkt hinter der Unterkunft, kaum einen Steinwurf entfernt, liegen die noch trostloseren Obdachlosen-Unterkünfte der Allerärmsten der Stadt. Kaputte Fenster, marode Läden, blätternde Farbe. Unwillkürlich fragt man sich bei all dem Elend dort, ob es - Sparzwänge hin oder her - wirklich nötig ist, dass die Stadt der Reichen und Schönen diesen Gebäuden nicht mit minimalem Aufwand wenigstens von außen ein etwas hoffnungsvolleres Aussehen geben könnte.

Aber nicht das ist heute mein Thema, sondern ein erster konkreter Einblick in die Arbeit der Ehrenamtlichen, die sich seit einigen Monaten intensiv um die Asylbewerber in Baden-Baden kümmern.




Kurz vor elf kommt sie angeradelt, die agile kleine Frau, die Ihnen ihr Alter nicht verraten will. Dass sie über siebzig ist, darf ich dann aber schon schreiben.

Und mit ihrer Ankunft geht die Sonne auf, anders kann man es nicht ausdrücken, auch wenn sich diese Formulierung vielleicht etwas abgegriffen anhört. Jeder, der Sigrid Kampmann einmal erlebt hat, weiß, wovon ich rede. Wenn sie lächelt, nein strahlt, dann verblasst für einen Moment alles Hässliche der Welt.

Wir gehen in das Containergebäude hinein, und da warten sie auch schon, 20, 30 wissbegierige junge Männer und Frauen, die meisten aus Eritrea, aber auch aus Kamerun und Nigeria. Erwartungsvoll stehen sie mit ihren Schreibblöcken in der Hand vor dem abgeschlossenen kleinen Gemeinschaftsraum, in dem die Tische und Stühle ihrem Andrang kaum gerecht werden. Ein neuer Ehrenamtlicher ist heute Vormittag dazugestoßen, er nimmt sich gleich der blutigen Anfänger an, hat sich ein Buch für solche Anfänger besorgt, die Schwierigkeiten mit der lateinischen Schreibweise haben. Rund ein Dutzend der Wartenden folgt ihm in einen zweiten Gemeinschaftsraum, der Rest drängt sich in Zimmer 9 zusammen. Die Stühle reichen gerade so aus.





Und schon geht es los. Hefte werden aufgeschlagen, Kugelschreiber gezückt, Köpfe erwartungsvoll zur Tafel gerichtet. Frau Kampmann lächelt. Und damit öffnet sie Herzen und Geist aller Anwesenden. Wie jeden Dienstag beginnt sie mit dem Datum, schreibt es an die Tafel, fragt nach dem Tag gestern, vorgestern, morgen. Manche murmeln die Zahlen und Wochentage noch etwas zögerlich und bewegen die fremden Laute wie heiße Kartoffeln im Mund, andere sind regelrechte Musterschüler, können jede Frage ohne Nachdenken beantworten. Es wird viel gelacht, viel und bereitwillig gelernt. Den besten von ihnen winkt - neben der Freude und dem Selbstbewusstsein wie bei allen anderen, sich in der  Sprache des Gastlandes auszukennen - ein Fernziel: eine Empfehlung für einen weiterführenden VHS-Kurs, der dann später beim Arbeitsamt eine Rolle spielen könnte. Die 90 Minuten vergehen in dieser offenen, interessierten Atmosphäre wie im Flug.






Ein Zögling erscheint etwas zu spät. Er hat sich mit Anzug und Krawatte fein herausgeputzt. "Ein Diplomat", nennt ihn Sigrid Kampmann freundlich, und alles lacht, auch der feine Herr. Wie sich später herausstellt, ist dies seine zweite Deutschstunde, und er verfolgt ein ganz besonderes Ziel. Aber erst einmal macht er den Unterricht vorbildlich mit. Seine feine Kleidung ist immer wieder Thema. Die Schüler lernen dank ihm das Wort Krawatte, das Wort "gestreift" - und damit einhergehend auch die Worte kariert und uni, sie lernen die Farben, auch wenn das eigentlich nicht für diese Stunde vorgesehen war.

Sigrid Kampmann benutzt kein Lehrbuch. Sie hat sich viele angesehen, aber keines für geeignet empfunden. Sie macht alles intuitiv, lässt sich von Lehrbüchern höchstens einmal für die  Themensuche inspirieren. "Am Wochenende überlege ich mir den neuen Stoff", verrät sie mir nach der Stunde. Sehr gut kam kürzlich zum Beispiel an, dass sie ihren Schützlingen die Funktionsweise der Fahrtkartenautomaten erklärt und sie gleich mit dem Tarifdschungel des KVV bekannt gemacht hat.

Letzten Dienstag waren Uhr- und Jahreszeiten dran, heute geht es um Krankheiten. Kopfweh, Bauchweh, Halsweh... Das versteht jeder, und man antwortet im Chor. Auf Nachfragen geht Sigrid Kampmann voller Interesse ein, irgendwann ertappe selbst ich mich, dass ich ihre Fragen beantworten möchte. Sigrid Kampmann - die geborene Lehrerin aus Leidenschaft. Sie hat doch sicher ihr ganzes Leben nichts anderes getan, als Schüler zum Lernen zu motivieren.





Mitnichten!, lerne ich. Zwar hat sie schon als Elfjährige mit ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester und deren Freundinnen die ganzen langen Sommerferien im heimischen Garten "Schule" gespielt, und stets hatte für sie festgestanden, dass sie mal Lehrerin wird, aber dann ... tja... entwickelte sich das Schulleben für die Heranwachsende als - sagen wir mal - schwierig. In der zwölften Klasse ging sie ab, erst im Alter von 50 Jahren holte sie das Abitur nach. Da war sie bereits erfolgreiche  Reisebüro-Expedientin gewesen, hatte als Mutter von vier Kindern genügend Heim-Lehrerin gespielt und sich in ihrem Wohnort Bad Herrenalb ehrenamtlichen in der Hausaufgabenbetreuung von ausländischen Schülern verdient gemacht. Erst vor fünf Jahren kam sie nach Baden-Baden, nachdem Haus und Garten zur Last geworden waren und sich eine neuartige Wohnform im in-Via-Wohnprojekt in der Cité auftat. Inzwischen fühlt sie sich wohl in der Stadt. Erfolgreicher Ruhestand, wie man ihn sich vorstellt - möchte man meinen. Aber immer nur Fahrradfahren?

Als sie im Sommer vom runden Tisch Asyl erfuhr, stand schnell für sie fest, dass sie sich auf diesem Gebiet ehrenamtlich betätigen wollte. Probehalber besuchte sie als Gast einen der Deutschkurse im Briegelacker. Es machte "Klick". "Das kann ich auch", schoss es ihr durch den Kopf, und sofort stand für sie fest, dass sie ihr Metier gefunden hatte. Zunächst unterrichtete sie Kosovo-Albaner im Briegelacker, als das neue Asylbewerberhaus in der westlichen Industriestraße eingeweiht wurde, zog auch sie um.





Was treibt sie an, sich einmal jeden Dienstag vor die Klasse zu stellen? "Hoffentlich lernen sie etwas von mir", wünscht sie sich. Für sie ist es vor allem die Freude, etwas sinnvolles zu tun. Wenn ihre Schüler zuhören, etwas behalten und dann richtig antworten, dann sei das einfach nur "toll". Alle, die heute im Kurs saßen und so brav antworteten, konnten vor vier Monaten nicht ein einziges Wort Deutsch. Das freut sie, ebenso natürlich, wenn ihre Zöglinge sich zum Abschluss der Stunde höflich bei ihr bedanken und ihr zeigen, wie sehr sie sich über ihren Unterricht freuen. Auch mir raunen sie mit Blick auf Frau Kampmann im Hinausgehen zu: "Sie ist eine gut Lehrerin!"

Was gibt es ihr? "Zufriedenheit. Dienstags gehe ich immer sehr zufrieden nach Hause."

Und was gibt es den Schülern? Kommen wir noch einmal auf unseren fein herausgeputzten "Diplomaten" zurück. Erst als der Unterricht sich dem Ende zuneigt und Sigrid Kampmann  freundlich fragt, ob es noch Fragen gibt, meldet er sich stürmisch. Was denn auf Deutsch "ich liebe dich" heißt, will er (auf Englisch) wissen. Sigrid Kampmann lacht und schreibt es an die Tafel, lässt ihn nachsprechen. Fügt als mögliche Alternative noch ein "sehr" hinzu, was mit einem euphorischen "YES" aufgenommen wird. "Viel Glück" lernt der junge Romeo auch noch gleich dazu, ebenso wie die höfliche Formulierung "Ich möchte mit Ihnen essen gehen" und den richtigen Zeitpunkt, wann er wohl am besten seiner Traumfrau einen Wechsel ins vertrautere Englische vorschlagen kann.





In der Westlichen Industriestraße werden noch mehr ehrenamtliche Sprachlehrer gebraucht. Wer einmal in der Woche 90 Minuten anbieten möchte, kann sich beim nächsten Treffen der Gruppe "Sprachkurs" am Montag, 19. Januar, 16 Uhr, im katholischen Gemeindehaus am Marktplatz 10 informieren. Hospitanz ist auch vorher jederzeit möglich. Bitte setzen Sie sich am besten mit der Integrationsbeauftragten der Stadt, Hanna Panther, in Verbindung. Tel. 93 14 778, Mail: hanna.panther@baden-baden.de  Da auch Frau Panther keine Ganztags-Stelle hat und inzwischen am Rande ihrer Kapazitäten ist, kann eine Antwort ein, zwei Tage dauern, aber sie meldet sich zuverlässig.

Weitere Informationen zum Thema Asyl in Baden-Baden, über Termine und die Arbeit der Ehrenamtlichen finden Sie auf meiner Sonderseite Asyl => KLICK

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Und ganz zum Schluss möchte ich doch noch verraten, was es mit der schicken Kleidung unseres "Diplomaten" auf sich hatte. Auf Nachfrage eines Sprach-Hospitanten klärte er das Mysterium auf: Er sei kürzlich in der Innenstadt von Baden-Baden gewesen und habe bemerkt, dass "man" sich dort elegant kleide. Da wollte er auf keinen Fall mehr in Jogginghosen herumlaufen und auf diese Weise als Asylbewerber auffallen. Und er redete sodann auch seinen Mitschülern ins Gewissen, es ihm gleichzutun...


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