Menschen in Baden-Baden. Heute:
Jess Doenges
Strahlend sitzt sie mir am Ticket-Schalter in der Trinkhalle gegenüber, die Freundlichkeit in Person. Wer in Baden-Baden ins Theater, ins Festspielhaus oder die Philharmonie will, kommt praktisch nicht an ihr vorbei. Man merkt, dass sie ihren Beruf liebt. Wenn man sie sieht, meint man sofort: Hier sitzt ein glücklicher Mensch. Nichts deutet darauf hin, durch welche Täler die 37jährige bereits ging. Jess Doenges - das ist doch die Lebensfreude schlechthin!?
Das dachte sie auch - bis zu jenem schicksalhaften Tag im Juni 2008, den sie so beschreibt:
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Wikipedia um Thema Hodgkin (Lymphdrüsenkrebs): Klick
Wie benommen läuft Jess Doenges durch die Stadt, sucht zwei Tage lang Bücher, die ihr helfen könnten. "Aber ich habe nichts Aufbauendes gefunden. Nur Bücher über Krebs und Tod."
Bereits am nächsten Tag steht für sie fest: "Wenn es keine positiven, tröstenden Texte zum Thema gibt, schreibe ich sie eben selber." Genauso wie sie sich vom ersten Tag an sagte: "90 Prozent Heilungschance? Ich bin dabei!"
Ab Tag zwei nach der Diagnose bis zur letzten Nachuntersuchung waren von nun an ihre Notizbücher ihre ständigen Begleiter.
Aus Jess Doenges' Youtube-Video: Klick |
Sie beginnt, ihre Erfahrungen und Tipps für Menschen, denen es ähnlich geht wie ihr, zu verbreiten. Erst auf ihrem Blog, dann schickt sie das Manuskript per pdf-Datei jedem, der sich an sie wendet. Es sind durchweg positive Texte, und die Nachfrage steigt. Es wächst ihr langsam über den Kopf. Sie versucht daher, das Manuskript verlegen zu lassen. Kein leichtes Unterfangen, zumal gerade in jener Zeit Krebsbücher regelrecht boomen. Irgendwann nimmt sie an einem Wettebwerb teil, und sie schafft es! Wenigstens als e-book, das aber gleich bei neobooks, einem Imprint des renommierten Droemer-Knaur Verlags. Zum e-book bei Amazon: Klick
Text von Jess Doenges' Website entnommen: Klick |
Das Schreiben ist ihr nicht ganz fremd. Schon ab 1995, als sich die gelernte Erzieherin aus Bonn ihren Traum erfüllte und für ein erstes Praktikum, dann für eine längere Tätigkeit bei ihrem Lieblingssender - dem heutigen SWR 3 - nach Baden-Baden zog, tütete sie nicht nur für den Club Konzerttickets ein, sondern schrieb auch nebenbei.
Das Leben meint es - trotz allem - gut mit ihr in jener Zeit: Eine Woche vor der Diagnose bekommt sie ihren jetzigen Job im Ticket-Service in der Trinkhalle Baden-Baden angeboten. Jess ist happy. Am 1. Januar 2009 soll sie die Stelle als Leiterin antreten, wird mündlich vereinbart. Im August ruft sie mit bangem Herzen ihren künftigen Arbeitgeber an und sorgt sich, ob er trotz ihrer Krankheit zu seinem Wort stehen wird: "Chef, ich habe keine Haare mehr. Aber bis Januar bin ich wieder fit." Seine Antwort wird sie nie vergessen: "Wenn Sie mir bis dahin nicht wegsterben, stelle ich Sie trotzdem ein."
Und so sitzt sie am 2. Januar 2009 mit Kopftuch an der Theaterkasse. "Der Job war meine Reha", sagt sie. Eine Selbsthilfegruppe kam für sie nie in Frage. "Ich wollte auch nichts mehr mit Kranken zu tun haben", gesteht sie. Für sie war es schon während der Chemotherapie und Bestrahlungen schlimm, Leidensgenossen zu treffen. Sie will nicht jammern, nicht heruntergezogen werden, sie kauft auch gleich eine ganze Auswahl von Kopftüchern anstatt über die Aussicht nachzudenken, die Haare zu verlieren. "Ich habe nur eines gehofft: Dass ich meine Fingernägel und meine Wimpern behalte". So war es auch.
Dann aber, eineinhalb Jahre, nachdem gesundheitlich alles überstanden war, zu einem Zeitpunkt, als klar war, dass ihre Aufzeichnungen als e-book verlegt werden, als eigentlich der Himmel voller Geigen hätte hängen können, kam von einer vollkommen unvermuteten Seite ein Schlag, der für sie schlimmer war als die Diagnose Krebs: Ihre langjährige Freundin und Lebensgefährtin verließ sie Knall auf Fall.
"Beim Krebs wusste ich: Ich nehme die Medizin, und dann hat es ein Ende. Mein Liebeskummer aber traf mich so sehr, dass ich dachte, es sei mir nicht möglich weiterzuleben." Sie versucht es, aber es geht ihr schlecht. Sie bekommt Antidepressiva verschrieben, setzt sie wieder ab, quält sich. Irgendwann erfährt sie von Bekannten, dass es im Internet eine online-Agentur gibt, die sich um Fälle wie sie kümmert (ja, auch so etwas gibt es!):
Die Liebeskümmerer. Hier ihre Webseite: Klick
Und wie das so sein muss in modernen Märchen: Eines Abends, als sie sich wieder einmal verloren und allein fühlt, schreibt Jess eine Mail an die Agentur - und bekommt sofort Antwort. Und die lautet nicht etwa "Das geht vorüber", sondern man nimmt sie ernst. Es wird ein intensiver Mail-Kontakt mit der Agentur-Gründerin höchstpersönlich, unbequemen Fragen muss sie sich stellen, etwa nach der Augenhöhe zwischen ihr und ihrer damaligen Partnerin: "Warum habt ihr euch denn nie gestritten?" "Hast du dich vielleicht zu sehr zurückgenommen?" Sie lernt, auf sich zu schauen, ohne egoistisch zu sein.
Man weist ihr Lösungen auf, hat gute Ideen, sogar ein therapeutisches Angebot (gegen reguläre Bezahlung) gibt es seit Neuestem. Jess Doenges bekam über eine bestimmte Zeit eine intensive Betreuung per e-Mail und Telefon, kostenlos allerdings ist die Betreuung nicht. Wieviel? "Man zahlt, was einem der Service wert ist", erzählt sie und lächelt.
Langsam rappelte sie sich wieder hoch, gab sogar nach, als Kollegen vom Theater ihr zwei öffentliche Lesungen im schönen Spiegelfoyer organisierten. Eine wunderbare Erfahrung, gibt sie im Nachhinein zu, aber anfangs mussten die Kollegen schwere Überzeugungsarbeit leisten. Immer wieder brach der alte Kummer durch, aber sie schafft es. Natürlich.
Auch der Liebeskummer ist längst verheilt, Jess ist absolut glücklich, aber losgelassen hat sie die Erfahrung nicht. Als die Gründerin der "Liebeskümmerer", Elena-Katharina Sohn, im vergangenen Herbst selbst ein Buch über ihre Erfahrungen mit ihren Kummerpatienten schrieb, war sie selbstverständlich zur Zusammenarbeit bereit.
Das Buch "Schluss mit Kummer, Liebes" - Klick
21 Schicksale hat Sohn in ihrem Buch herausgegriffen, auch Jess Doenges ist dabei und hatte als einzige nichts dagegen, mit vollem Namen für die Sache zu stehen. Das Buch schlug in den Medien Wellen. ARD, RTL 2 und - ganz neu - der WDR drehten Beiträge darüber, und beim letzten Dreh, Jahre nach ihrem ersten e-Mail-Kontakt, lernten sich Jess und ihre damalige Helferin Elena endlich auch persönlich kennen. Eine schöne Erfahrung, wie sich unzweifelhaft an Jess' Gesicht ablesen lässt.
Mehr dazu Klick |
Der Krebs ist nun bereits fünf Jahre her. Fünf Jahre mit regelmäßigen Untersuchungen, die immer mit Angst begleitet wurden. "In der Ambulanz, im Wartezimmer war sofort wieder alles ganz nah, auch wenn ich wusste, der Krebs ist weg", sagt sie und schaut enegerisch, als wolle sie mir die nächsten Sätze unbedingt ins Notizbuch diktieren: "Der Krebs ist weg", wiederholt sie mit Nachdruck, "und er bleibt weg!"
Was sie hat aus ihren Krisen gelernt?
"Der Krebs hat mich gelehrt, das Leben zu lieben, mein Liebskummer hat mich gelehrt, mich zu lieben.
"Bist du glücklich?" Sie zögert nicht. Warum auch, es gibt ja nur eine Antwort: "Ja."