Menschen in Baden-Baden, heute:
Wilhelm Lehner
Heute gibt es zum Sonntag einmal keine Multimedia-Geschichte, sondern es geht diesmal zurück in die Vergangenheit. In eine Zeit, in der ich mir als Kind am Fenster vom Süßigkeitenladen die Nase
platt gedrückt habe. Oder am Weihnachtsfester des Warenhauses, in dem die
elektrische Eisenbahn ihre Runden drehte.
Und jetzt, Jahrzehnte später, geht es
mir wieder so: Ich komme nie an der Dekoration der Schaufenster in der Lichtentaler
Straße 43 vorbei, ohne stehen zu bleiben und zu schwelgen. Ein kleiner, verkramter Laden, Gegenentwurf zu den kühlen, großflächigen Verkaufstempeln der heutigen modernen Zeit. Das
Gefühl ist dasselbe wie früher, nur sind es heute - statt der Sahnebonbons - diese Objekte, die mein Herz schneller
klopfen lassen:
Immer wieder entdecke ich da etwas, das
ich schon immer gesucht habe. Diese Schaufenster lassen Wünsche wach
werden, man sieht etwas und malt sich sofort die passenden Rezepte
aus...
Mit anderen Worten: Willkommen im Paradies der Köche, oder, wie es nüchtern an der Schaufensterscheibe heißt: „Lehner – Hotel- & Küchenbedarf“.
Mit anderen Worten: Willkommen im Paradies der Köche, oder, wie es nüchtern an der Schaufensterscheibe heißt: „Lehner – Hotel- & Küchenbedarf“.
Natürlich werden hier nicht nur
Gastwirte und Hoteliers bedient, auch Hobbykoch und Hausfrau kommen
gern in den kleinen Laden und lassen sich beraten. Vollgestopft bis
oben hin, ist hier alles griffbereit, was man fürs Kochen oder
Backen brauchen könnte. Backförmchen, Messer, Korkenzieher, Töpfe,
Kannen, Gläser, Geschirr, Pfannen, Mühlen... Eine wahre
Schatzhöhle!
Und der Herr dieser Höhle, Wilhelm
Lehner, steht wie ein Berg der Ruhe in dem überwältigenden
Durcheinander. Hier wird handfest beraten, es wird nicht lange
gefackelt. „Eine Pfanne für die Steinpilze?“, fragt er noch
einmal nach, als ich mit meinem kleinen Schatz vom Wochenmarkt bei
ihm hereinstolpere. Schon lange ärgere ich mich, dass ich nur große
Pfannen habe, aber keine für diese Handvoll Herbstgold. Lehner wirft
einen abschätzenden Blick auf die nicht sehr üppige aber dafür
umso kostbarere Tüte und kramt geübt genau die richtige Pfanne
heraus. Mit hohem Rand, „da können Sie alles schön rütteln und
schwenken.“ Bei so viel Sachverstand fragt man erst gar nicht nach
Alternativen.
Man würde sowieso keine bekommen. „Gastrolux sind die besten Pfannen, die es gibt“, sagt
der Fachmann kategorisch. Dieser Mann ist eine Institution, deshalb
man glaubt es ihm einfach. „Ich verkaufe hier nichts, was vorher
nicht daheim getestet wurde“, verrät er mir ein paar Tage später,
als ich ihn endlich zu einem Interview überreden kann. Das war ja
schon lange mein Herzenswunsch.
Manchmal nämlich, wenn ich an dem
Geschäft vorbeigehe, steht der Chef draußen im Hauseingang und
guckt gemütlich, als sei die Zeit stehen geblieben. Als gäbe es
kein Internet, keine Ein-Euro-Läden, keine Kneipenkrise, keinen
Diätwahn, keine Existenzsorgen. Er steht da wie ein Denkmal aus
einer anderen Welt. Dann wünscht man sich, er möge dort für immer
stehen bleiben. Wie alt er wohl ist? Wie lange er seine Kochhöhle
wohl noch betreiben mag?
Er lacht, als ich ihn mit solchen
Fragen bestürme. 76 Jahre ist er, und ans Aufhören denkt er nicht
eine Minute. Warum auch? „Was soll ich denn daheim?“ fragt er
verblüfft zurück. Kegeln und Spazierengehen? Das Tennis traut er
sich ja nach seinem Herzinfarkt nicht mehr so recht zu. Nein, das
würde ihn doch niemals ausfüllen. Sein Platz ist hier, in seinem
Geschäft. Reichtümer häuft er zwar nicht an und er weiß auch
nicht, wie es in Zukunft weitergehen wird, aber der Laden ist nun mal
sein Lebensinhalt, Beruf und Hobby zugleich.
Schon gleich nach der Schule hat der
gebürtige Allgäuer in seiner Heimatstadt Kempten eine kaufmännische
Lehre begonnen, denn in die Fußstapfen seines Vater, des
Käsereibesitzers, wollte er nicht treten. „Das hat schon damals
keine Zukunft gehabt“, erinnert er sich. Aber seine Lehrstelle beim örtlichen Händler
für Eisenwaren, Haushalts- und landwirtschaftliche Geräte war dicht
am bäuerlichen Umfeld orientiert, und außerdem gab es ja auch noch
die Oma, die Köchin war. Da lag das gewählte Berufsumfeld nicht weit.
Den jungen Gesellen hielt nach der
Lehre allerdings nichts mehr in der Heimat. Er wollte sich verändern,
und da kam ihm eine Anzeige im damaligen Handels-Blatt wie gerufen.
Eine Stelle in Baden-Baden! „Der Name hat gleich gezogen“, weiß
er noch. So reiste er 1960 hoffnungsfroh an die Oos, in einen Laden
für Haushaltsartikel und Eisenwaren in der Lichtentaler Straße, schräg gegenüber des Standorts seines heutigen Geschäfts. Die
Stadt hat ihm sofort gefallen, als er am Bahnhof in Oos in den Zug
zum „alten Bahnhof“ umstieg und dann mit der Tram zum
Augustaplatz fuhr.
Das böse Erwachen folgte allerdings
auf dem Fuße. Der Hungerlohn machte ihm zu schaffen. „185 Markt
bekam ich, und für das Zimmer – ausgerechnet auch noch im Haus des
Chefs – wurden mir gleich wieder 110 Mark abgezogen. Beim Metzger
am Augustaplatz gab es Mittagessen für rund 2 Mark. Da können Sie
sich bei dreißig Tagen im Monat ausrechnen, wie das ausging.“ Nach
einem Vierteljahr waren seine Ersparnisse aufgebraucht, und er trug
sich mit dem Gedanken aufzugeben. Aber ein mitleidiger Stammkunde
brachte ihn mit einer ähnlichen Firma in der Rheinstraße zusammen,
und das klappte sofort. Auch die Bezahlung stimmte, und Willi Lehner
war seitdem knapp zwanzig Jahre für den Innen- und Außendienst der Abteilung
Hotel- und Gaststättenbedarf zuständig. 1980 kam die Firma in andere Hände, und Willi Lehner
machte sich in der Lichtentaler Straße mit seinem jetzigen Geschäft
selbständig.
„Das war damals eine schöne Zeit“,
erinnert er sich. „Wir haben Gasthäuser im ganzen Schwarzwald, von
Freiburg über Freudenstadt bis nach Karlsruhe beliefert.“ In
diesen Spitzenzeiten zählte er in seiner Kartei 394 Wirtshäuser,
Kliniken, Altenheime und Kantinen zu seinem festen Kundenstamm. Auch
heute sind es noch mehrere hundert, auch wenn sich die Zeit sehr
verändert hat. Kliniken und Betriebskantinen werden zusammengelegt und ordern zentral,
Gasthäuser machen zu, weil die Jungen nicht mehr kommen und die
Alten wegsterben, weil es kaum noch Kegelclubs und Skatrunden gibt,
die die Wirtshäuser einst bevölkerten. Wo früher zu Familienfesten das
Nebenzimmer gebucht wurde, weicht man heute in Vereinsheime oder die
Festhalle aus und bewirtet seine Gäste selbst oder mit einem Partyervice. Er kann es den Leuten
nicht verübeln, er schüttelt ja selbst den Kopf, als er mir vorrechnet, was er
erst kürzlich beim Pizzaessen für vier Personen bezahlen musste.
Natürlich machen die Profiküchen
immer noch einen großen Teil seines Geschäfts aus, das
Leasinggeschäft läuft ebenfalls noch gut, auch wenn ihm diverse
Partyservice-Firmen das Leben schwer machen. Allein in seinem Lager
in der Rheinstraße hält er Teller, Gläser und Besteck bereit, mit
denen er Veranstaltungen für bis zu zweihundert Gäste bestücken
kann.
Aber die Hobbyköche sind auf dem
Vormarsch. Und für die öffnet er seine Schatzhöhle natürlich
ebenso gern. „Die jungen Leute kochen ganz hervorragend“, schwant
ihm, wenn er sich anhört, was sie warum bei ihm bestellen. Fünfzig
Prozent Privatkundschaft hat er heute.
Hat er das Sortiment angepasst? Zum
Beispiel auf die Molekularküche, die ja ganz besondere Utensilien
benötigt? Dieser Trend ist schon wieder am Abklingen, schätzt er.
Bei ihm kauft man eher Bodenständiges. „60 verschiedene
Messersorten habe ich im Sortiment, aber trotzdem fehlt jeden Tag was
anderes.“ Denn jeder hat unterschiedliche Bedürfnisse: Der eine
will eine dünne Klinge, der nächste eine starre oder mit Säge,
ohne Säge... oder japanisch, geschmiedet, Keramik...“ Er kann
jedem dienen. Gerade ausländische Kunden seien ganz verrückt nach
Messern, auf denen „Solingen“ steht, er persönlich hingegen
schwört auf diese Messer mit dem schwarz-weißen Querschnitt als
Markenzeichen:
Da kam auch schon mal ein Kunde eigens aus New
York ganz gezielt zu ihm, um ein solches Messer für seine Oma
nachzukaufen, die vor 50 Jahren ausgewandert war und darauf bestand,
nur solche zu benutzen.
„Es gibt nichts, das ich nicht
besorgen kann“, sagt Lehner mit berechtigtem Stolz.
Selbst wenn er einmal etwas nicht auf
Lager hat, ist es im Nu bestellt. So hat er auch einmal einer Russin,
die in ihrem eigenen Flugzeug gekommen war, vier Fleischwölfe
verkauft, das Stück zu 2000 Euro, bar auf die Hand. Natürlich hatte
er keine vier Geräte auf Lager, und der Lieferweg aus Westfalen
hätte drei Tagen gedauert. Da kann Herr Lehner auch schon mal
energisch werden. „Setz dich ins Auto und bring die selber her, am
besten gleich zum Flughafen, und anschließend kommst du zu mir, und
ich gebe dir das Geld.“, hat er dem Lieferanten eingeheizt. Und
siehe da, es klappte wie am Schnürchen. Lehner deutet ein Lachen an,
als er sich daran erinnert.
Überhaupt kann er von den viel
zititerten „Russen in Baden-Baden“ nur das allerbeste berichten.
„Wenn ihnen etwas gefällt, dann kaufen sie es.“ Korkenzieher,
Pfeffermühlen oder teure Kellnerkorkenzieher gehen gerne als
Mitbringsel ins Reisegepäck der Gäste aus den ehemaligen
GUS-Ländern.
Manchmal darf es auch etwas
Ausgefallenes sein. Lehners größter Deal: Eine Grillstation in Form
ein Dampflokomotive mit einem extra Kartoffelkocher inklusive. Ein Riesenteil, das sich
ein so genannter „Russe“ in seinen Garten seiner Villa in
Baden-Baden liefern lassen wollte. Aus einem spontanen Bauchgefühl
entschied Lehner, seinem Kunden das bestellte Teil nicht wie sonst
üblich persönlich zu bringen, sondern die Spedition direkt zur
Lieferadresse zu schicken. „Das war mein Glück. Das Ding – und
das wusste ich vorher nicht - hat sieben Zentner gewogen.“ Das
freut ihn noch heute.
Eine letzte Frage drängt sich auf,
auch wenn sie mit eigentlich überflüssig erscheint: Wie steht der
Herr Lehner denn selbst zum Kochen? Wahrscheinlich schwingt er am
Feierabend Suppenkelle und Kochlöffel mit wahrer
Hingabe? Die Urkunde, die da unauffällig neben ihm
aufgestellt ist, bietet solch eine Schlussfolgerung an.
Aber ich ernte auf meine Frage nur
gutmütiges Lachen. Nein, mit Kochen hat der famose Herr Lehner, der
Herr über alle erdenklichen Küchengerätschaften, so gar nichts am
Hut. Klar, ein Rührei würde er hinbekommen, aber ansonsten
überlässt er den Herd denen, die davon mehr verstehen: Seiner Frau
und seiner Tochter. Kein „gastrosexueller Mann“ also, von denen
die Zeitungen im Augenblick voll sind, nein, bei Lehners wird
bodenständig badisch gekocht und mit Hingabe gespeist. Kartoffelsuppe mit
Zwetschgenkuchen, Käsekartoffeln, Bratkartoffeln mit Sauermilch...
Eben kommt ein älterer Herr in den
Laden und holt etwas ab, das er bestellt hat. Er strahlt über das
ganze Gesicht, als er mit dem kleinen Päckchen wieder hinausgeht.
Auch Lehner strahlt, als er mir leise erklärt: „Seine Frau ist schwer krank und kann nur sehr
mühsam und langsam essen. Deshalb habe ich ihm einen Warmhalteteller
für sie besorgt. Ich glaube, das hilft den beiden jetzt richtig.“
Das sind die Momente, in denen die
Freude am Beruf die Sorgen vor der Zukunft bei weitem überwiegt.
Gerade das Internet macht Lehner zunehmend zu schaffen. Er will nicht
viel damit zu tun haben, es gibt noch nicht mal eine Website von
seinem Geschäft. Wenn etwas online zu regeln ist, übernimmt das für
ihn seine Tochter, die im Hintergrund mitarbeitet.
Aber noch sieht er optimistisch in die
Zukunft. Ihn finden eine Kunden von nah und fern auch ohne
Internetauftritt, besonders gern kommen auch Gäste der vielen
Kongresse zu ihm in den Laden, um in ihrer freien Zeit nach Dingen zu
stöbern, wofür sie sich im Alltag nicht die Zeit nehmen.
Wie lautet denn sein Ausblick? „Man
darf nie aufgeben.“
Und was ist sein größter Wunsch? Er
überlegt nicht lange. „Dass sich der Augustaplatz vorteilhaft für
die Geschäftsleute ringsum entwickelt.“ - Nun, da haben wir ja ein
gemeinsames Thema! Und so kommen wir an diesem Tag zum Mittagessen
beide zu spät.
+++ Nicht nur zur Weihnachtszeit: Wilhelm Lehner ist neuerdings DHL-Station, er bringt also für die Post Päckchen und Pakete auf den Weg. Stressfrei, ohne lange Schlangen!
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 9 bis 12.30 Uhr und 14.15 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis (nur in der Weihnachtszeit) 16 Uhr.
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